Sonntag, 24. Dezember 2017

Lese- & Denkabenteuer: Wahre Geschichten



Haimo L. Handl
 
In meiner Jugendzeit grassierte die eigentümliche Epidemie der Schundliteratur, vor der die Lehrer und Pädagogen warnten. Schundhefte deckten vom Landser-, Horror-, Krimi-, bis zu den Liebesschmonzes alles ab, und zwar in einfachster Sprache und nach fixen, stereotypen Erzählmustern, die ihren ungeheuren Erfolg begründeten, da die Mehrheit der Bevölkerung damals noch ungebildeter war, als sie es heute noch ist.

Es war auch die Zeit die „Wiederaufbaus“, der erwachenden Konsumkultur, der gesellschaftlichen Umwälzungen und der historischen Verdrängungen. Die Illustrierten widmeten sich wieder dem Abbau der Privatsphären, gaben sich aufdeckerisch, wiewohl meist nur „systemaffirmierend“, wie es in den späten Sechzigern hieß, und verkauften mit Sexappeal alles, was zu verhökern war. Die Macht des Mannes, der grad im zweiten Weltkrieg sein tiefes Versagen, seine inhumane Bestialität unter Beweis gestellt hatte, war noch nicht gebrochen: als Mann und Haushaltsvorstand durfte er herrschen wie ein Pascha; er prügelte die Frau und die Kinder, war er weniger brutal, brüllte er und ließ sich bedienen. Die Frauen, die die erste Drecksarbeit nach den verheerenden Bombenangriffen „erledigt“ hatten, die oft einsam, aber ausdauernd die Versorgung sichergestellt hatten, traten wieder ins zweite Glied des Dienens zurück, bückten und beugten sich wieder, damit der geschlagene Mann, dieses Elend, dieser Hund, der ewig leben wollte, wieder bellen und beißen konnte. Spät, sehr spät, fiel dann die Macht dieser Vorstände; sie schrumpfte mit der versagenden Virilität und dem wachsenden Bierbauch der hässlichen Mannsbilder, der fiesen Schmierer und Opportunisten. Bis 1977 musste eine Frau die Erlaubnis des Ehemanns einholen, um arbeiten zu dürfen. Das ausbeuterische Arbeitssystem schuf aber einen Druck, der die ungeliebte Halbemanzipation der Frauen unumgänglich werden ließ. Der Kulturapparat, die Bewusstseinsindustrie lieferte die entsprechenden Bilder und Filme zur allgemeinen Einübung, die Literatur hatte sich, für die Mehrheit der Leserschaft zumindest, auch angepasst und Radio und Fernsehen wurden zu den eigentlichen und effektiven Lehrmeistern der Nation; wer heute Dokumentationen ansieht, wie böse, und voller Hass die „Staatsorgane“ gegen Demonstrierende vorgingen (unterm Hitler hätts des net gebn!), wie die rohe Prügelgewalt herrschte und ein Ordnungsdenken, das seine Herkunft aus der Nazizeit nicht verstecken konnte, wie heute wieder, kriegt eine ungefähre Ahnung von der Unkultur und vom Ungeist, der nur militärisch gebrochen worden war.

Die Kurzromane der Heftchen, die begierig gelesen wurden (im fast nicht alphabetisierten Italien der Unterschichten waren es vor allem die einfachen Bildergeschichten und Fotoromane, die die Massenverbildung sicher stellten), lieferten die ersehnten Traumkulissen, lieferten die Stoffe zur Realitätsbewältigung. In den Schulen vernahmen wir die Aburteilungen oder Warnungen. Zwar schien das Meiste, wenn von Autoritäten vorgebracht oder eingefordert, verdächtig und fragwürdig, aber im Falle der Schundliteratur war ich selbst über die Lektüre zum Schluss gekommen, dass sie zu dürftig, zu simpel, einfach Abfall war. Ich hatte einige wenige Krimis gelesen und bemerkt, dass die Sprache so einfach gestrickt war, dass sie mir weder Stoff noch Nahrung bot. Ich war anderes gewohnt. Ich bin auch nie zum Fan („Fan“ ist die Abkürzung von „Fanatic“ oder Fanatiker, damals, nach dem Krieg mit den vielen Fanatikern, eine befremdlich eigentümliche Verlagerung amerikanischer Werbemaßnahmen und Verbildungen, diese Untypen als positiv hinzustellen, was die Europäer, besonders die folgsamen Deutschen, bereitwillig aufnahmen) von Micky Mouse geworden; mich langweilten ziemlich rasch die billigen Heftchen.

In der Schweiz, wo ich in meiner Kindheit und Jugend immer wieder weilte, kamen mir so einfache Heftchen unter dem Titel „Wahre Geschichten“ unter die Augen. Sie waren so einfach, so stereotyp, so dürftig oberflächlich und vordergründig, wie alle andern auch. Aber sie gaben vor, wahr zu sein, als ob der Rekurs auf Erlebtes diesen Schund, die Täuschungskonstruktionen aufwertete. Die einfachen Menschen, die sie lasen, durften darin also den schriftlichen Spiegel ihrer ureigenen Welt erkennen, sich freuen, dass es andern ebenfalls dreckig ging, dass manchmal Träume sich bewahrheiteten, dass das Glück nicht nur bei den Oberschichtlern, die sie anbeteten, zu Hause war, sondern auch bei den „Gewöhnlichen“. Diese wahren Geschichten wirkten wahrscheinlich wie eine Vergewisserung einerseits, eine Lebensorientierung andererseits. Wenn DAS wahr war, bestätigte es auch das eigene Leben, das uneigentlich, entfremdet, fremdbestimmt gefristet wurde, als wahr. Der Kreis schloss sich und die Unteren, die Geschundenen konnten ihren eigenen Stolz entwickeln, in einer Art Trotz sich bestätigt fühlen und die große Täuschung in der Fremdbestimmung und Ausbeutung, der „Verwaltetheit“ des Menschen“, den tiefen gesellschaftlichen Betrug übersehen und damit als Stimmvieh, als blökende Mitläufer, ihre eigene Depravierung perpetuieren.

Das Hohe Lied der Einfachheit hat sich damals schon in der reduzierten Sprache vorbereitet: einfache Menschen leben einfach, teilen eine einfache Sprache; die Eliten sind Fremdkörper, die sie demütigen. In der Pflege des Einfachen, des Simplen, des Reduzierten, verbirgt sich das Volkstum, das Volk, die Bewegung und Gemeinschaft, die es zu stärken gilt (und das wenige Jahre nach dem Krieg, als das Volk mit seinem gelenkten Volkstum fast alles vernichtet hatte, als der Ungeist der rabiaten Spießer, der stets Zukurzgekommenen sich in Mord und Totschlag, in Krieg und Kriegsverbrechen entlud, von denen man aber keine wahren Geschichten berichten wollte … Heute rappelt dieser Ungeist sich wieder hoch, nicht nur in Österreich oder Deutschland, überall in Europa und auch den USA: der hässliche, faschistische Kern der Rabiaten Täter will toben und wüten).

Jene Autoren, die sich der neuen Leichtsprache bedienen, werden gepriesen. Die Welt ist einfach: hell und dunkel, hoch und tief, wahr und unwahr. Nichts ist fix, was nicht approbiert ist von den Mächtigen oder der Mehrheit, weil es dann „fake news“ ist gegenüber „alternative facts“. Orwell und sein Vertrauen in 2x2=4 ist von gestern, obsolet und vorbei. Heute gilt Trump und Lakaienhaltung, der Terror der Tugendhaften gleich welcher Couleurs, nicht nur in Charlottsville, sondern auch in Wien, wo die Burschenschafter endlich zeigen, wo der Bartl das Bier holt (Most saufen die ja nicht). Und diese Unverbindlichkeit, die sich als Toleranz ausgibt, widerspiegelt das einfache Leben, den einfachen Glauben, das dumme Credo „Eure Rede sei ja, ja, nein, nein.“ Als ob’s so einfach wär‘ (je gewesen sei).

Der Verweis auf Tatsachen erhöht, verleiht Weihe und Authentizität. Das allgemeine Misstrauen gilt der Fiktion, dem Kreativen, dem Freidenken. Literatur heute liest sich wie Geschäftsberichte, Bilanzen, Inventurlisten, Behördentexte. Kafka passt mit seinem Amtsdeutsch in diese Landschaft und liefert die gängigen Ängste für die Durchschnittlichen. Es herrscht der Bericht,. der Rapport, das Dokument und Dokumentarische. Jeder ein kleiner Archäologe, ein Historiker, jeder kompetent im Wenigwissen und Zitatenschatz, den Belegen. Eine Archivkultur des (vermeintlich) Faktischen.

Die Berichtsliteratur ist nur eine halbe. Stoff für Ungebildete und Halbgebildete. Die vermeintliche Überprüfbarkeit des Faktischen scheint Sicherheit zu verbürgen. Der Schriftsteller als Rapporteur geriert sich wie der fantasielose Tagebuchautor, der Ereignisse festhält und davon seine Wertigkeit, seinen Dienst an der Wahrheit ableitet. Er oder sie, die Autorin, und die Leser teilen sich Wirklichkeiten. Es geht nicht mehr um Konstruktion, Kreativität oder Imagination, es geht primär ums Beobachten. Es regiert die Beobachterin, der Zeuge, das Voyeurhafte. Man liest nicht mehr in Auseinandersetzung und aktivem Weiterdenken, man überfliegt, registriert, beobachtet die Beobachterin, den Berichterstatter.

Ein Autor namens Stephan Wackwitz fragt in einem Artikel (in der NEUEN RUNDSCHAU 127/2016) ernsthaft, ob es nichtfiktionale Literatur gebe und mokiert sich über Iris Radisch, die eine Lanze für die fiktionale Literatur brach. In seinem „Erkundungsspaziergang“, wie der Untertitel seines Elaborats lautet, wertet er Radischs Position ab als „Vorurteil zeitgenössischer Literaturinteressierter besonders in Deutschland: Literatur unterscheide sich von Nichtliteratur durch Fiktionalität – und das vorzugsweise im Roman“. Wie kann man nur! Er, der Moderne, der auf der Höhe der Zeit und ihrer Faktenorientierung (wir leben ja in Zeiten von alternative facts und fake news) lebt, verweist aber kundig auf die Literatur- und Kulturgeschichte, die massenhaft Beweise für die Vorherrschaft des Faktischen, Dokumentarischen, Biographischen, Authentischen liefere. Er verweist auf die Tradition des Essays und seine immer noch höchste Bedeutung. Er ruft als Zeugen alte und weniger alte Berühmte als Zeugen auf (Montaigne; Nietzsche, Adorno etc.), führt Friedrich Schlegel und Johann Georg Hamann an, Ralph Waldo Emerson und Richard Rorty. In seinem Raritätenladen wimmelt es nur so von tatsachenverpflichteten Philosophen und Literaten Er muss natürlich die Poesie auslassen, weil die nun mal in den meisten Fällen, wenn sie „berichtet“ und dokumentiert, keine ist, aber er fokussiert auf die Essays von Gottfried Benn, um seine These zu stützen. Dass gerade unter diesen aber so mancher bedenkliche, bornierte, kurzsichtige Text zu finden ist, worin der Poet als Nichtpoet seine dunkle, hässliche Ideologie nicht zu maskieren vermochte, wird nicht erörtert. Es würde zu weit führen und seinen Aufsatz, der vielen jungen Germanisten als Handreiche dienen mag, ungebührlich aufwerten, wollte ich en detail zitieren, wiederholen und kritisch ein- und abwenden. Wir sind ja nicht im naturwissenschaftlichen Bereich überprüfbarer Wahrheiten, wollen es auch nicht sein und behalten unsere eigene Interpretation.

Mir scheint der Wackwitz keinen Witz zu kennen, nur wacker drauflos zu schwabbern und jene Sätze zu formulieren, die ihm Sicherheit bieten. Es ist, als ob er, stellvertretend für die vielen, vielen Autoren, die gleich ihm sich engstirnig an die Dürftigkeit des Faktischen halten, eine eigentümliche Angst vor der Fiktion, dem Fiktionalen habe, an ihr leide und deshalb als Leidvoller abwehre. Hätte er Adorno aufmerksam gelesen, könnte die Erinnerung an Aussagen von ihm ihn vielleicht ins Zweifeln oder Grübeln bringen:

Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ist kein unmittelbar zu Identifizierendes. Wie er einzig vermittelt erkannt wird, ist er vermittelt in sich selbst. Was das Faktische am Kunstwerk transzendiert, sein geistiger Gehalt, ist nicht festzunageln auf die einzelne sinnliche Gegebenheit, konstituiert sich durch diese hindurch. Darin besteht der vermittelte Charakter des Wahrheitsgehalts. Der geistige Gehalt schwebt nicht jenseits der Faktur, sondern die Kunstwerke transzendieren ihr Tatsächliches durch ihre Faktur, durch die Konsequenz ihrer Durchbildung. Der Hauch über ihnen, das ihrem Wahrheitsgehalt Nächste, tatsächlich und nichttatsächlich in eins, ist grundverschieden von Stimmung, wie die Kunstwerke sie ausdrückten; der formende Prozeß zehrt eher jene auf um jenes Hauchs willen. Sachlichkeit und Wahrheit sind in den Kunstwerken in einander. Durch ihren Hauch in sich selber – Komponisten ist der ›Atem‹ einer Musik vertraut – nähern sie sich der Natur, nicht durch deren Imitation, zu deren Bann Stimmung rechnet. (Adorno, Ästhetische Theorie, GS 7:195)

            Musterung. – Wer, wie das so heißt, in der Praxis steht, Interessen zu verfolgen, Pläne zu verwirklichen hat, dem verwandeln die Menschen, mit denen er in Berührung kommt, automatisch sich in Freund und Feind. Indem er sie daraufhin ansieht, wie sie seinen Absichten sich einfügen, reduziert er sie gleichsam vorweg zu Objekten: die einen sind verwendbar, die andern hinderlich. Jede abweichende Meinung erscheint auf dem Bezugssystem je einmal vorgegebener Zwecke, ohne welches keine Praxis auskommt, als lästiger Widerstand, Sabotage, Intrige; jede Zustimmung, und käme sie aus dem gemeinsten Interesse, wird zur Förderung, zum Brauchbaren, zum Zeugnis der Bundesgenossenschaft. So tritt Verarmung im Verhältnis zu anderen Menschen ein: die Fähigkeit, den andern als solchen und nicht als Funktion des eigenen Willens wahrzunehmen, vor allem aber die des fruchtbaren Gegensatzes, die Möglichkeit, durch Einbegreifen des Widersprechenden über sich selber hinauszugehen, verkümmert. Sie wird ersetzt durch beurteilende Menschenkenntnis, für die schließlich noch der Beste das kleinere Übel ist und der Schlechteste nicht das größte. Diese Reaktionsweise aber, das Schema aller Administration und »Personalpolitik«, tendiert bereits von sich aus, vor aller politischen Willensbildung und aller Festlegung auf ausschließende Tickets, zum Faschismus. (Adorno, Minima Moralia, GS 4:149)

Und weiter Adorno:

Wishful Thinking. – Intelligenz ist eine moralische Kategorie. Die Trennung von Gefühl und Verstand, die es möglich macht, den Dummkopf frei und selig zu sprechen, hypostasiert die historisch zustandegekommene Aufspaltung des Menschen nach Funktionen. Im Lob der Einfalt schwingt die Sorge darum mit, daß nur ja das Getrennte nicht zueinander finde und das Unwesen stürze. »Hast du Verstand und ein Herz«, lautet ein Distichon Hölderlins, »so zeige nur eines von beiden, / Beides verdammen sie dir, zeigest du beides zugleich.«  (Adorno, Minima Moralia, GS 4:225)

Zur Verantwortungslosigkeit der Unbedarften, der Einfachen, falsch Simplen notiert Adorno:

Moral und Stil. – Man wird als Schriftsteller die Erfahrung machen, daß, je präziser, gewissenhafter, sachlich angemessener man sich ausdrückt, das literarische Resultat für um so schwerer verständlich gilt, während man, sobald man lax und verantwortungslos formuliert, mit einem gewissen Verständnis belohnt wird. Es hilft nichts, alle Elemente der Fachsprache, alle Anspielungen auf die nicht mehr vorgegebene Bildungssphäre asketisch zu vermeiden. Vielmehr bewirken Strenge und Reinheit des sprachlichen Gefüges, selbst bei äußerster Einfachheit, ein Vakuum. Schlamperei, das mit dem vertrauten Strom der Rede Schwimmen, gilt für ein Zeichen von Zugehörigkeit und Kontakt: man weiß, was man will, weil man weiß, was der andere will. Beim Ausdruck auf die Sache schauen, anstatt auf die Kommunikation, ist verdächtig: das Spezifische, nicht bereits dem Schematismus Abgeborgte erscheint rücksichtslos, ein Symptom der Eigenbrötelei, fast der Verworrenheit. Die zeitgemäße Logik, die auf ihre Klarheit so viel sich einbildet, hat naiv solche Perversion in der Kategorie der Alltagssprache rezipiert. Der vage Ausdruck erlaubt dem, der ihn vernimmt, das ungefähr sich vorzustellen, was ihm genehm ist und was er ohnehin  meint. Der strenge erzwingt Eindeutigkeit der Auffassung, die Anstrengung des Begriffs, deren die Menschen bewußt entwöhnt werden, und mutet ihnen vor allem Inhalt Suspension der gängigen Urteile, damit ein sich Absondern zu, dem sie heftig widerstreben. Nur, was sie nicht erst zu verstehen brauchen, gilt ihnen für verständlich; nur das in Wahrheit Entfremdete, das vom Kommerz geprägte Wort berührt sie als vertraut. Weniges trägt so sehr zur Demoralisierung der Intellektuellen bei. Wer ihr entgehen will, muß jeden Rat, man solle auf Mitteilung achten, als Verrat am Mitgeteilten durchschauen. (Adorno, Minima Moralia, GS 4:114)

Und als Schlusszitat, sozusagen der Hammer gegen die Faktenapostel, noch ein Satz:

Unterm Denkverbot sanktioniert Denken, was bloß ist. (Adorno, Negative Dialektik, GS 6:93)

Der Freund und Mentor Adornos, Max Horkheimer, notierte in den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts (in „Der Mensch in der Wandlung seit der Jahrhundertwende“):

Mit dem Schrumpfen der Innerlichkeit entschwindet auch die Freude an der eigenen Entscheidung, an Bildung und Phantasie. Andere Neigungen und Ziele kennzeichnen die Menschen dieser Zeit: technische Geschicklichkeit, Geistesgegenwart, Lust an der Herrschaft über Apparaturen, das Bedürfnis nach Eingliederung, nach Übereinstimmung mit der großen Mehrheit oder einer als Modell gewählten Gruppe, deren Regel an die Stelle eigenen Urteils tritt. Anweisungen, Rezepte, Leitbilder treten anstelle der moralischen Substanz.

Der Rekurs auf die verbriefte Wahrheit des Berichteten wird nicht nur von vielen arrivierten Autorinnen und Autoren unternommen, sondern vor allem von Aspiranten und Neulingen, die Fuß fassen möchten. Von den vielen Anfragen um Buchveröffentlichungen an unseren Kleinverlag zitiere ich einen Satz einer Autorin stellvertretend für das allgemeine Missverständnis: „Ich garantiere einen Wahrheitsgehalt meiner Geschichten von mindestens 90%. Bei den restlichen 10% habe ich meiner Phantasie einen gewissen Freiraum eingeräumt.“ So beteuert die Lieferantin ihrer WAHREN GESCHICHTE als

Reporter eigener Eindrücke.

Der Kritiker und Literat Hans Weigel reflektierte diese Problematik, den Wechselbezug von gesellschaftlichen Wertsystemen und „eigener“ Lektüre bzw. „eigener“ Sprache: 

„Dass einem, der sich aus Liebe zur Literatur der Literatur verschrieben hat, das Schreiben schwerfällt und kaum je Freude bereitet, ist unvermeidlich. Tragisch aber scheint es mir, dass auch das Lesen fast immer mit professionellen Hypotheken belastet ist, dass sich Reflexion und Nebenwirkungen dazwischenschalten, dass man nicht unmittelbar genießen kann, sondern denken muss „Wie ist das gemacht?“, dass man zum Reporter seiner Eindrücke werden muss.“
„Es geht ja oft so, dass man Dinge, die man weiß, Erkenntnisse und Erlebnisse für nicht so besonders hält, weil man sie weiß, weil man sie erlebt hat.“
(Hans Weigel im Beitrag „Marlen Haushofer“ seines Buches „In Memoriam“ (Graz 1979))

Schriftsteller, die als Rapporteure sich strikt an „die Wahrheit“ halten, an die empirische Welt, wozu sie regelgerecht Belege und Berichte liefern, versagen sich die Freiheit des freien, weil offenen Gedankens, das Hineinfallen in die Fantasie und in die Sprache. Sie sind zu ängstlich für das Fiktionale, das Eigen-Kreative und halten sich sklavisch, wie Buchhalter oder Inventurbeamte an „Tatsachen“, real Geschehenes, obwohl vieles, dessen sie sich erinnern, zwar auf Realem basiert, in der Erinnerung und ihrer Aktivierung aber unvermeidlich doch geformt, verändert, gefiltert ist. Der Fetisch Authentizität wirkt, ähnlich dem der Wahrheit als Scheuklappe, als Brett vor dem Kopf, was aber von der Mehrheit der Gesellschaft als akkurat, korrekt, genau, passend etc. anerkannt und belobigt wird.

Auch peniblen Tagebuchschreibern haftet die spießige Kleinlichkeit an, der untaugliche Versuch, das Leben in Worten festhalten und berichten zu wollen, ganz gleich, ob sie Kafka heißen oder Kempowski oder Dostojewski usw. Was sie maximal festhalten können, sind Eindrücke und Ausdrücke. Das reicht zwar, entspricht aber nicht der Ideologie und den Vorzeichen des Unterfangens, die in den Schriften, den Konstrukten, mehr sehen wollen.

Wir meinen eine berechtigte Praxis bei politischen Tagebüchern festmachen zu müssen. Hier wandelt sich das minutiöse Dokumentieren zur vermeintlich wertvollen Historie, obwohl nichts verbürgt, dass die Schreiberin oder der Schreiber „die“ Wahrheit erkannten oder erfuhren (Anne Frank, Victor Klemperer etc.).

Aber zwischen dem Erleben und Erfahren des Lebens im Vollzug, sozusagen als Seiendes im Sein, und der Konstruktion von Tatsachen, den Fakten, und den Erinnerungen daran, klafft eine unüberwindbare Kluft. Das Leben wirkt und scheint viel einfacher, als selbst die Vereinfachung der Sprachfassung sie nachträglich bewirkt. Sigmund Freud reflektierte die eigentümliche Naivität und die Komplexität des Historischen in seinem Aufsatz „Zukunft einer Illusion (1927):

Endlich kommt die merkwürdige Tatsache zur Wirkung, daß die Menschen im allgemeinen ihre Gegenwart wie naiv erleben, ohne deren Inhalte würdigen zu können; sie müssen erst Distanz zu ihr gewinnen, d. h. die Gegenwart muß zur Vergangenheit geworden sein, wenn man aus ihr Anhaltspunkte zur Beurteilung des Zukünftigen gewinnen soll.

Lange vor Freud formulierte der psychologische, literarische Philosoph Friedrich Nietzsche Sätze, deren sich gerade Sprachbeflissene erinnern sollten:

Wir stellen ein Wort hin, wo unsre Unwissenheit anhebt, wo wir nicht mehr weiter sehn können, z. B., das „Ich“, das Wort „tun“, das Wort „leiden“: – das sind vielleicht Horizontlinien unsrer Erkenntnis, aber keine „Wahrheiten“.

Keine Wahrheiten, keine Fakten. Konstruktionen. Die Kurzdenker, die social media activists kümmert das gar nicht oder wenig. Sie schwelgen in ihrer oberflächlichen Welt des Quantitativen. Auf der anderen Seite belegen die Erfolge von Rapporteuren wie Knausgard, dass das freie Denken abgenommen hat, die Bindung an die vermeintliche Faktizität, das Authentische in dem Maße zunahm, wie die Werte als Inhalte abhanden kamen und leere Formen, Klischees, den Rest von Denkvermögen vernebeln in einer nervösen Geschäftigkeit von kurzsichtigen Nutzendenkern, von Pseudos.


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