Montag, 6. November 2017

Armut verdirbt

Eine Notiz von Louis Christian Wolff:



Sie lag dort und atmete schwer. Die Nase war rot, geschwollen, die Oberlippen nass vom herabtropfenden dünnen Schleim, die Lippen selbst spröde, brüchig, weil immer geöffnet zum Luftholen. Sie stierte auf die Decke. Einmal war sie weiss gemalt worden. Jetzt war die Farbe dunkelschmierig von Rauch und Staub. Das ärmliche Mobiliar in dem kleinen Zimmer verstärkte das Bild von Desparatheit. Für einen Moment schoss mir das Wort "armselig" in die Sprache, doch wies ich es empört zurück. Die Verbindung von "arm" und "selig" war unlauter. Hier war nichts "selig". Hier dumpfte abgestandene Luft, verdünntem Sauerstoff, weil der Gaskonvektor bei ungeöffnetem Fenster die "Frischluft" frass. Das Zimmer war krank wie sie. Armut verdirbt.

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