Dienstag, 12. September 2017

Aus Herders Humanitätsbriefen

Ein alter Text zur neuen Zeit, also unserer Gegenwart, weil sich nur wenig änderte, vieles im Kern gleichblieb, und meist nur Formen sich modern abheben:

Johann Gottfried Herder:
Briefe zur Beförderung der Humanität


(im Wikipedia-Text Hinweise auf online-Quellen!)


12.

Mich dünkt, Ihre Fragen über den geringen Antheil, den die heutige Dichtkunst an den Händeln der Zeit nimmt, haben Sie Sich selbst beantworten können; denn der Stoff dazu liegt völlig in Ihrem Briefe.
Schaffen Sie uns den Zustand der Griechen wieder, und Alcäus, Pindar, Aeschylus sind mit ihnen auch da. In vielerlei Rücksicht aber würden wir diese Zeiten nicht wünschen und uns dagegen an unsrer dichterischen Untheilnehmung begnügen. So wäre es auch in Ansehung der Zeiten Horaz' oder gar der Kreuzzieher und Harfner. Opitz und Logau fühlten die Drangsale des dreißigjährigen Krieges; wider ihren Willen mußten sie an dem Elende, das er verbreitete, Theil nehmen; der Widerschein seiner Flammen glänzt in ihren Gedichten. Kleist, Uz und Gleim trafen auf die Zeiten der preußisch-österreich'schen Kriege; alle Drei fanden darin unverwelkliche Lorbeern, der Erste aber auch bei vieler Noth, die er als Krieger mit bedrücktem Herzen sah, seinen blutigen Tod. Was diese Dichter uns aus theurer Erfahrung sangen, warum mühte es uns, durch neue Erfahrung theuer erkauft, wieder gesungen werden? Tönt uns Kleist's Stimme nicht noch? 
»Ihr, denen zwanglose Völker der Herrschaft Steuer vertrauten,
Führt Ihr durch Flammen und Blut sie zur Glückseligkeit Hafen?
Was wünscht Ihr, Väter der Menschen, noch mehrere Kinder? Ist's wenig,
Viel Millionen beglücken? erfordert's wenige Mühe?
O, mehrt Derjenigen Heil, die Eure Fittige suchen,
Deckt sie gleich brütenden Adlern. Verwandelt die Schwerter in Sicheln,
Erhebt die Weisheit im Kittel und trocknet die Zähren der Tugend!«
Die rührende Stimme seines »Grab- und Geburtsliedes«, seine »Sehnsucht nach Ruhe«, sein »Abschied« hinter »Cissides und Paches« tönt noch jedem Leser ins Herz, nachdem der Dichter die Gesinnungen seiner Seele mit Leben und Blut versiegelt. So ist's mit den patriotischen Oden Uz', Klopstock's; und der preußische Kriegssänger ist ebensowol Volks-, Friedens-, Staatssänger geworden, hat bis auf die neuesten Zeiten fast an jeder großen Angelegenheit Antheil genommen, die seinem Gesichtskreise irgend nur nahe lag. 
Aber, mein Freund, nach unsrer Lage der Dinge halte ich das zu nahe, zu starke Theilnehmen der Dichter an politischen Angelegenheiten beinahe für schädlich. Zu bald nimmt der Dichter einseitige Partei und thut der besten Sache, geschweige einer schwachen, wankenden, mit dem besten Willen Schaden. Dadurch schwächt er die gute Wirkung seiner Gedichte selbst; denn in Kurzem ist die Situation der Zeit vorüber; man sieht die Dinge anders an; man behandelt ihn als einen abgekommenen Barden. Also bleibe die Poesie in ihrem reinen Aether, der Sphäre der Menschheit,
» Coetusque vulgares et udam
Spernat humum fugiente penna
!« 
In diesem höheren, freieren Raume begegnen sich alle politische Meinungen als Freundinnen und Schwestern; denn im Elysium wohnt keine Feindschaft.
Sehr gut also, daß unsre Musenalmanache äußerst wenige politische Oden mit sich führen. Bald würden Zwei gegen einander im Streit liegen; und überhaupt ist's doch nur Spiel, wenn Genien mit Waffen der großen Götter spielen.
Das aber glauben Sie, daß die Poesie als eine Stimme der Zeit unwandelbar dem Geiste der Zeit folge; ja, oft ist sie eine helle Weissagung zukünftiger Zeiten. Lesen Sie in Stolberg's »Jamben«, 1784 gedruckt, den »Rath« (S. 66) und mehrere Gedichte; lesen Sie mehrere, frühere und spätere Oden Klopstock's, und leugnen noch, daß auch auf deutschen Höhen oder in ihren Thälern ein prophetischer Geist der Zeiten wehe! Schade nur, daß er nicht vernommen wird; denn um aller deutschen Redlichkeit willen, welcher Mann von Geschäften läse ein Gedicht, um in ihm die Stimme der Zeit zu hören!
Wir, meine Freunde, wollen den Garten der Grazien und Musen in der Stille bauen. Verständiger Homer, edler Pindar, und Ihr sanften Weisen, Pythagoras, Sokrates, Plato, Aristoteles, Epikur, Zeno, Marc-Antonin, Erasmus, Sarpi, Grotius, Fénélon, St. Pierre, Penn, Franklin, sollt die heiligen Mitwohner unsrer friedlichen Gärten werden. Das aufschießende Korn bedarf mancherlei Witterung; die Saat in der Erde will Ruhe und milden, erquickenden Regen.

13.

Milden erquickenden Regen wünscht die keimende Saat der Humanität in Europa, keine Stürme. Die Musen wohnen friedlich auf ihren heiligen Bergen, und wenn sie ins Schlachtfeld, wenn sie in die Rathskammern der Großen treten, entbieten sie Frieden. Eine edle, würdige That zu loben, ist ihnen ein süßeres Geschäft, als alle Flüche Alcäus' oder Archilochus' auf taube Unmenschen herabzudonnern.
Wenn es z. B. in unsern Zeiten einen Regenten gäbe, der an seinem Theil dem barbarischen Menschenerkauf im andern Welttheil entsagte und damit andern Staaten zu ihrem Erröthen ein Beispiel gab; wenn er nach Jahrhunderten der Erste wäre, der die Sclaverei willkürlicher Frohnen und andre erdrückende Lasten seinem Volk entnahm und ein andres seiner Völker von ebenso drückenden Einschränkungen im Handel befreiete; wenn dieser Regent ein hoffnungsvoller königlicher Jüngling, und Einrichtungen dieser Art nur das Vorspiel seiner Regierung wären: Heil dem Dichter, der solche Thaten ohne alle Schmeichelei würdig und schön darstellte! Heil jedem Leser und Hörer, der diesem Sänger einer reinen Humanität mit reinem Herzen zujauchzte!

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