Donnerstag, 12. März 2015

Lettre aktuell Nr. 1/2015


Die jüngste Ausgabe ist eingelangt und liegt in unserer Bibliothek auf:


Lettre International Nr.108 / Neue Ausgabe

Liebe Leserinnen und Leser, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freundinnen und Freunde,
der Frühling streckt erste Fühler aus, und mit dem Frühlingserwachen erblüht auch Lettre International in frühlingshafter Pracht und Fülle. Lettre Nr. 108 ist ab Donnerstag, dem 12. März 2015, am Kiosk, im Buchhandel, an Bahnhöfen, Flughäfen oder ab Verlag zu haben. Gestaltet hat sie der Graphiker und Plakatkünstler Gunter Rambow.
100 Jahre nach dem Völkermord an den Armeniern wird dieser bis heute noch verleugnet: Welche Konsequenzen hat das für die türkische Gesellschaft? Philosophen und Juristen erhellen Hintergründe der Pariser Attentate: Wer ist Charlie? Im Nahen Osten stellt sich erneut die Orientalische Frage. Ein Nigrer beschreibt seinen Fluchtversuch nach Europa: Grab der Illusionen. In Burkina Faso erleben wir eine Revolution. Private Datenmonopole sollten vergesellschaftet werden: Big Data für alle! Eine Universaltheorie des weiblichen Schmerzes untersucht die Wunden der Frau. Ein Intellektueller zieht eine Zwischenbilanz seines abenteuerlichen Lebens. An das Kriegsende 1945 im zerstörten Nazireich erinnert: Hitler Kaputt! Wir graben uns tief ins Land unter London hinein. Wir beobachten Avantgarde und Tradition in der Globalität der Musik, hören von der Oper der Zukunft und dekodieren Theatercodes. Wir belauschen einen Flirt von Gabriel García Márquez, wir fragen: Kann Spanien modern werden? Und wir erinnern an eine herausragende Persönlichkeit der Anti-Vietnamkriegsbewegung.
ARMENIEN ERINNERN
Aus Anlaß des 100jährigen Jahrestags des Völkermords an den Armeniern erinnert die Schriftstellerin Sema Kaygusuz in ihrem bewegenden Essay Abel, vom Raben begraben an die Leugnung und Verdrängung des Genozids in der Türkei: „Gräber schauen zum Himmel auf, Grabsteine den Menschen ins Gesicht. Um das stille innere Gespräch fortzuführen. Das Behauen von Stein ist ein Gestus von Kultur. Grabinschriften besagen, solange es Barbaren auf der Welt gibt, kann dem Menschen das Leben genommen werden, um seinen Tod aber bringt ihn niemand. Die Lebenden lesen sie und entwickeln über das Gedenken an die Verstorbenen hinaus auch Ethiken zu ihrem Gedächtnis. (...) Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, was ein Land, das zum Gedenken an die 1915 in Anatolien ermordeten Armenier bis heute keinen einzigen Stein aufzustellen fähig war, in dem die grundlegendste zivilisatorische Handlung über ein Jahrhundert verweigert blieb, seinem Volk und den in alle Welt versprengten Armeniern bis heute vorenthält.“
RELIGION UND REPUBLIK
Das islamistische Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo in Paris im Januar 2015 markiert eine Epochenwende, so der italienische Philosoph Paolo Flores D’Arcais in seiner Analyse: Wer ist Charlie? „Das Blutbad geschah im Namen Gottes, des monotheistischen allmächtigen Schöpfergottes, des Gottes Mohammeds, Allahs, des Barmherzigen und Gnädigen. Im Namen des Islam, des fundamentalistischen und terroristischen Islam. Der andere Islam, betont man, sei dabei Opfer – doch erscheint ein reformierter und säkularisierter Islam heute nahezu inexistent. Sich dies nicht einzugestehen ist Blindheit, und die reinste Heuchelei des westlichen Establishments, das sich in erster Linie dafür interessiert, sich mit seinen islamischen Partnern die oberste Religion zu teilen, den Gott des Geldes, der über Erdöl und Börse gebietet. Deshalb hat dieses Establishment Bemühungen um eine Reform des Islam nie ernsthaft unterstützt. (...) Nur eine strikte Trennung von Staat und Religion, säkularer Republik und Offenbarungsglaube ist mit Modernität und Demokratie vereinbar: Die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie hängt von der – heute verweigerten – Akzeptanz der Säkularisierung ab, der Trennung von Religion und Politik, und dies gilt für alle Religionen. Doch die Säkularisierung ist das, was große Teile des westlichen Establishments bekämpft haben und weiter bekämpfen.“ Ein Plädoyer für Demokratie und strikte Laizität.
Der französische Rechtsphilosoph Antoine Garapon erhellt in Rächer des Propheten Zusammenhänge zwischen den Pariser Attentaten, der Globalisierung und der Souveränität des Staates: „Diese Mordtaten sind hybride Akte, die in keine wohlsortierte Kategorie passen: Es sind zugleich terroristische Attentate und Kriegsakte, gemeinrechtliche Verbrechen und politische Gewalt. Die Opfer spiegeln diese Heterogenität wider: libertäre Karikaturisten, Polizisten, Juden, Partisanen der Unordnung und Ordnungskräfte, Verächter der Religion und des Religiösen. Und das wiederum spiegelt sich in der Kohärenz der Reaktionen: Man ist auf die Straße gegangen für die Verteidigung der Meinungsfreiheit, aber auch gegen eine totale Freiheit, für die Muslime und gegen den radikalen Islam, für eine brüderliche Republik und eine unbeugsame Laizität.
Am erschreckendsten erscheint die unglaubliche Asymmetrie zwischen der Aktion einer Handvoll junger Fanatiker und der tiefgreifenden Destabilisierung eines Landes. Welches Mißverhältnis zwischen den Millionen Demonstranten und der Präsenz von vierzig Staatschefs, und einer aus drei Personen bestehenden Bande (...) Diese Gewalttaten markieren die Verwirrung der Räume und der Zeiten. (...) Eine solche Verwirrung resultiert aus einer bedeutenden Entwicklung unserer Welt, nämlich einer Raumrevolution, der Globalisierung, genauer aus der Deterritorialisierung.“
Extrem verschiedene Vorstellungswelten und konkurrierende Symbolsysteme treffen ohne jede Vermittlung aufeinander. Wie könnte der demokratische Staat den Dschihadimus erfolgreich bekämpfen? Durch, so Garapon, eine Aktualisierung des demokratischen Paktes und eine Modernisierung der Republik.
Wie bedeutsam auch die politischen, sozialen und religiösen Faktoren sein mögen, sie erklären nichts aus sich selbst heraus. Sie sagen nichts darüber aus, wie scheinbar normale Menschen so weit kommen, Selbstmordattentate zu begehen, so Bernard Perret in Gewalt und Heiliges:Wenn man fanatische Krieger rekrutieren will, geht man nie zu weit bei der Zurschaustellung extremer, grausamer, reinigender Gewalt, die eine Verheißung vollkommener Brüderlichkeit vermittelt. Eine solche Gewalt ist konstitutiv und will die sozialen Bindungen auf einer gemeinschaftlichen Grundlage neu gestalten. Ihre Adepten erstreben nichts Geringeres, als uns mit den tiefsten, auch den archaischsten Triebkräften der Zusammengehörigkeit neu in Verbindung zu bringen. Zutiefst lehnen sie ab, was wir die demokratische Gesellschaft nennen (...) Abgelehnt werden der Individualismus, die „kalte“ Gesellschaft, in der jeder ungehemmt seine eigenen Ziele verfolgt und so lebt, wie er es für richtig hält. Doch man darf sich nicht von dieser Gewalt prägen lassen. Gegen die Opferlogik zu denken ist anspruchsvoller, als in einen mimetischen Wettstreit mit dem religiösen Fanatismus zu treten.“
Seit Ende des 18. Jahrhunderts ist diese Region einer unablässigen Interaktion zwischen lokalen, regionalen und internationalen Ak­teuren unterworfen.“ Und heute gleicht der Nahe Osten eher dem Europa des Dreißigjährigen Kriegs als jenem von 1945. Mit den Ursachen dieses Desasters, den Zerstörungen autokratischer, aber säkularer Staaten wie Irak, Libyen und Syrien, dem Aufstieg des Islamismus und  des sogenannten Islamischen Staates, sowie dem Debakel westlicher Politik befaßt sich der Experte für die arabische Welt am Pariser Collège de France, Henry Laurens: Die orientalische Frage.
AUFBRÜCHE
Der Niger ist eines der ärmsten Länder der Welt. Diesem Land entstammt Oumarou M. Rabiou, der das hohe Risiko eingegangen ist, sich auf den Flüchtlingsrouten der zentralafrikanischen Migranten nach Europa durchzuschlagen, um darüber zu schreiben. Er vertraut sich einem Schlepper an, wird auf seinem Weg durch die Wüste getäuscht, betrogen, verlassen, ausgesetzt, beraubt, verdurstet fast, wird Opfer von Überfällen und Zeuge eines Raubmords, und landet schließlich im libyschen Tripolis in einem Elendsasyl. Zuletzt kauft er von Schleusern eine Überfahrt nach Italien, wird auf dem Meer aufgebracht und muß zurück, in ein libysches Gefängnis. Rabiou kehrt zurück nach Niger und berichtet über diese Odyssee. Er versteht seinen Text als Warnung an jene Afrikaner, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um das gelobte Land Europa zu erreichen. Seine Reise durch die Dunkelheit heißt: Das Grab der Illusionen.
Hoffnungszeichen aus Afrika schickt Peter Stepan. Wann würde der Funke nach Schwarzafrika überspringen? Nach der Volkserhebung der Tunesier, nach dem Tahrir der Ägypter, dem Maidan der Ukrainer: Würde bald eines der überfälligen Regime südlich der Sahara kollabieren? Blaise Compaoré, seit dem 31. Oktober 2014 Ex-Staatschef Burkina Fasos, war mit seinen 27 Jahren als Präsident nicht einmal der dienstälteste unter jenen afrikanischen Potentaten, die sich ad vitam aeternam an ihr Amt klammern. Wie Monarchen regieren Obiang Nguema und José Eduardo dos Santos seit 35 Jahren Äquatorialguinea bzw. Angola, Robert Mugabe ist Premier und Präsident von Zimbabwe schon im 34. Dienstjahr, und Paul Biya hat seit 32 Jahren Kamerun fest im Griff. Selbst unter den Spitzenreitern vergangener Endlos-Präsidenten rangiert Compaoré hinter Benins Mathieu Kérékou erst auf Platz sechs: Omar Bongo hielt sich 41 Jahre lang als Präsident von Gabun, Franz Josef Strauß’ Freund Gnassingbé Eyadéma 37 Jahre in Togo, gefolgt von Ahmed Sékou Touré (Guinea, 36 Jahre), Félix Houphouët-Boigny (Côte d’Ivoire, 33 Jahre) und Mobutu, den es in Kongo-Kinshasa im 31. Jahr seiner Herrschaft vom Thron fegte. Die Genannten führten oder führen noch immer ein blutiges Regime. Auch Compaorés Parcours säumen Serien politischer Morde.“ In Burkina Faso ereigneten sich nun im Oktober 2014 gleich mehrere Wunder, um in Rücktritt und Ausreise des Staatschefs Compaoré zu gipfeln: Daß ein Großteil der Bevölkerung der Hauptstadt Ouagadougou tagelang auf die Straße ging, ist das eine, das Tempo der Ereignisse das andere; und daß es nicht zu einem Blutbad kam, darf als das größte Wunder gelten. Ein Chronogramm der Burkinischen Oktoberrevolution.
DIAGNOSEN
Der Internettheoretiker Evgeny Morozov umreißt Geschichte und Gegenwart des „Netzes“. Er räumt auf mit Träumen, Illusionen und Silicon-Valley-Mythen der Internet-Euphorie. Das Internet entwickelt sich als Meta-Medium für verschie­denste Netzwerke, es integriert Zahlungs-, Buchungs- und Kommunikationssysteme, absorbiert parallele Entwicklungen von Hard- und Software, von staatlichen und privaten Infrastrukturen. Googles berühmter Algorithmus beruht auf Jahrzehnten der Forschung und ist nicht allein die Schöpfung weniger genialer Informatiker; zur Vorgeschichte des Internets gehören Militär, Geheimdienste, Computergiganten wie IBM und auch private Datenbankkonzerne. Diese Megaakteure akkumulieren immense Datenmengen über jeden User. Monopole wie Google, Facebook oder Amazon sammeln, systematisieren, werten aus und entwickeln gezielte Strategien. Sie erobern Informationen über die Menschen ganzer Kontinente. Daten und Dateninfrastrukturen sind heute zu Schlüsseltechnologien von Ökonomie, Politik, Militär und Geheimdiensten geworden. Morozov plädiert für die Vergesellschaftung der Datenzentren: Die Gesellschaft braucht neue Strukturen der Speicherung, des Eigentums und der Nutzung von Daten. Sie sollten alle den Bürgern zur Verfügung stehen und ein Instrument zur Verbesserung der Gesellschaft werden. Big Data für alle.
Der Wunden gibt es zahlreiche, der Schmerzen vielfältige. Verschuldete, unverschuldete. Schmerz empfinden, Schmerzen zufügen, Schnitte ins Fleisch, ins eigene, Selbstverletzung, sichtbar, unsichtbar, Scham über den Schmerz, Stolz über das Leid, Erbleichen, Erkranken, Aufmerksamkeit zu erregen suchen, Scham über die Wunde, Aufhebung der Grenze zwischen innen und außen, die Wunde, die offene, das Blut, Menstruation als ewige Wunde, die Narbe – Beweis des Schmerzes, die Narbe – Fenster ins verborgene Innere, Unterwerfung, Leid, Mitleid, Opferrolle – Leslie Jamison umkreist Die verwundete Frau und entwirft eine Universaltheorie des weiblichen Schmerzes. Sie analysiert, kategorisiert, hinterfragt alle Facetten weiblichen Schmerzes und auch Klischees, die mit ihm einhergehen. Weiblicher Schmerz bleibt irritierendes, tabuisiertes Thema, insistiert die Schriftstellerin und plädiert dafür, die Herzen zu öffnen.
LEBENSLINIEN
Régis Debray ist einer jener Intellektuellen, deren Lebenslauf den Umbruch von 1968 am markantesten verkörpern. Er reiste ins Kuba der 60er Jahre um aus Gesprächen mit Castro und Che Guevara eine Theorie der kubanischen Revolution zu destillieren. Als Begleiter des Che in Bolivien verhaftet, kam er auf internationalem Druck nach vier Jahren frei. Er war aktiv im Chile Allendes bis zum Militärputsch 1973. Zurück in Paris, wurde Debray außenpolitischer Berater von Präsident Mitterrand und Mitglied des Staatsrates. Als Denker und Zeitdiagnostiker verfaßte er Essays zur Religion, zum Sakralen, zur Mediologie, zur Rolle der Intellektuellen, zu Politik und Geschichte. Nun wagt Debray eine Bestandsaufnahme seines Lebens: Temperament, Charakter, Obsessionen werden erkennbar, Lust an großen Ideen und zugleich Erdung im Realen, Vergnügen an der Arbeit im Kollektiv und eine Vita zwischen dem Dünkel der akademischen Welt und der Freiheit des unabhängigen Schriftstellers: Die Autobiographie eines abenteuerlichen Herzens.
Am 8. Mai 2015 jährt sich zum 70. Mal das Ende des Zweiten Weltkriegs und der NS-Diktatur. Georg Stefan Troller, Journalist und Dokumentarfilmer, erinnert sich an das Kriegsende 1944/45. Der Sohn einer jüdischen Wiener Familie war den Nazis rechtzeitig entflohen und kehrte Jahre später als Vernehmungsoffizier der U.S. Army mit dem 179. Regiment der 45. Infanteriedivision, den „Thunderbirds“, aufs Schlachtfeld zurück. Jetzt hat er für Lettre erstmals wieder seinen Koffer mit Aufzeichnungen aus jener Zeit geöffnet. Kriegstagebücher, Protokolle, Skizzen, Notizen und Photographien helfen ihm, Erfahrungen und Begegnungen als US-Soldat im besiegten Deutschland, in Aschaffenburg, in München, in Dachau in Erinnerung zu rufen: Hitler kaputt!
LAND UND LEUTE
Wenn die Oberfläche der Welt mit Geschichten überladen ist, wenn an jedem Bauzaun plakatweise große Töne gespuckt und Busse, Polizeiautos und Müllwägen mit Slogans zugekleistert werden, werden Ambitionen, in den „Untergrund“ vorzudringen, verständlich. Oligarchen und überbezahlte Gangster am Geldmarkt, Fußballstars und ihre Berater graben schon seit Jahrzehnten Höhlen unter den Nobelvierteln Chelsea und Kensington. Sie lassen sich Pools, Kinos und den letzten Schrei eines Fitneßstudios unter der Erde bauen, in die kein ungebetener Sterblicher je einen Fuß setzen wird. Der Schriftsteller Iain Sinclair kennt die britische Hauptstadt wie seine Westentasche. Seine Reportage Land unter London widmet sich dem Bohren und den Bergwerksarbeiten, der Untergrabung der Oberfläche. Über Immobilienspekulanten und Fracker, Rutengänger und Künstlerkollektive, Hobbyarchäologen, eigenbrötlerische Erdarbeiter und psychopathische Maulwürfe. Eine Führung durch Katakomben, Kriegsbunker und Kanalisation, Schächte und Labyrinthe – eine psychogeographische Expedition in die Londoner Unterwelt.
Geboren in der Provinz ist Arian Leka. Die Hafenstadt Durrës am Gestade der Adria ist die zweitgrößte Stadt Albaniens und dessen frühere Hauptstadt. Einst stolze Hafenmetropole, geprägt von Seefahrt, Fischfang und maritimer Offenheit, Heimat von Werften und Industrie, ist sie herabgesunken in Provinzialität. Nur wenige Spuren zeugen noch vom glorreichen Zusammenleben von Mensch und Meer. „Nun oh Mensch! Was hast Du wieder angerichtet?/ In Silber hast Du verwandelt, alles was einst Gold war ...“ Leka erzählt von lokalen Mythen, Namen und Stammbäumen, von Originalen, Orten und Ereignissen. Bei allen Verluste entdeckt er einen neuen Zauber seiner Heimatstadt und so entfaltet er eine ganze Phänomenologie der Provinz. „Ich möchte die Provinz mit einem Unterschlupf in Kriegszeiten vergleichen, einem sicheren Ort, um sich vor den Produkten der ideologischen Pseudozivilisation zu schützen ...“
Dem mythischen Volk der Sarmaten und ihrem Lebensraum Sarmatien geht Rasmus Althaus in seinem Essay Beide Sarmatien nach. „Niemand genau weiß, wer die Sarmaten waren, ihre Herkunft liegt in der Weite der Steppe, im Dunkel der Vorgeschichte. Ihr Ende ist tragisch und wirr.“ Sie verlieren sich in den Bewegungen der Völkerwanderung, vermischen sich mit anderen Völkern und Kulturen, ändern ihre Stammesnamen, geraten in Vergessenheit. Sarmatien gehört sowohl zu Asien als auch Europa; irgendwo in den Ebenen zwischen Weichsel und Don, Don und Schwarzem Meer, Don und Donau bewegen sich diese Nomaden und ihre Spur verliert sich. Doch es beginnt eine zweite Geschichte Sarmatiens, als sie gegen Ende des 15. Jahrhunderts zu Vorfahren der Polen und Ruthenen gemacht und in Gebieten des heutigen Polens, Baltikums, Weißrußlands und der Ukraine verortet werden. „Sarmatien war überall dort, wo Intrigen, Anarchie und Absurdität herrschten“, es verkörperte ein Leben, das sich jeder Modernisierung verschloß. Die Reiche, Systeme, Herrschaftsgebilde kommen und gehen. Doch Sarmatien bleibt wie durch ein Wunder immer bei sich. „Es ist als würden die kulturellen Gene Sarmatiens in der Weite der Landschaft und nicht in der menschlichen Zivilisation mit ihren zufälligen Ideologien, Nationalitäten und Namen verborgen liegen.“
Eine ganze Maidanologie entwirft Stefan Weidner: „Seit langem kenne ich dieses Wort, und ich wußte, daß es ‘Platz’ bedeutete, bevor ich wußte, daß es in Kiew einen solchen Platz gibt. Ich kenne es aus dem Arabischen, aus verschiedenen Städten in der islamischen Welt, und wunderte mich, daß bei aller Berichterstattung nichts über die Tatsache zu lesen war, daß der berühmte Platz in Kiew genauso heißt wie der Tahrir-Platz, an dem die Ägypter sich eingefunden haben, um gegen die jeweils herrschende Regierung zu protestieren; und daß dieser genauso heißt wie der Taksim-Platz in Istanbul, wo die Proteste gegen Erdoğan begonnen haben. (...) „Maidan“ ist der arabische Name für Platz. „Maidan“ ist ein erz- und urarabisches Wort, und es ist, als trüge die Etymologie dieses Wortes wie ein Keim alles in sich, was sich später auf den „Maidan“ genannten Orten abspielen würde (...) Das Wort stammt von einem Verb ab, dessen Infinitiv „mayd“ oder „mayadan“ lautet, und dieses Verb drückt das Bewegtsein, Erschüttertwerden aus, das Wanken, Schwanken (...) Gibt es möglicherweise eine Art Maidan-Essenz, die jene Plätze auszeichnet, die da „Maidan“ heißen?“
Ein Güterzug ist entgleist, Waggons umgekippt und in Flammen aufgegangen, irgendwo auf dem mittelrussischen Land. Gerüchte verbreiten sich über die Gefahrenladung. Menschen aus der fernen Hauptstadt tauchen auf, Spezialisten zur chemischen Abwehr, ein Generalmajor, ein Katastrophenschutzoberst, eine ominöse Zivilperson; sie übernehmen und erklären die Gegend zum Notstandsgebiet. Tausende von Quadtratkilometern drohen, verseucht zu werden, die Region muß evakuiert werden, Militär wird eingesetzt. Die Mentalität von Geheimagenten und der Befehlston der Militärs vertragen sich schlecht mit dem Starrsinn der Dorfbewohner und dem Eigensinn der ländlichen Autoritäten. Aus einem kleinen Ereignis entwickelt sich ein ungeheures Geschehen. Zuletzt findet die Umweltkatastrophe nicht statt, denn ein betrügerisches Kartenhaus stürzt ein. Der menschliche Faktor regiert und ein Dieb wird zum Retter des Vaterlands. Der liebe Gott hat noch einmal die Hand über Rußland gehalten. Die Substanz, eine fesselnde russische Groteske, von Olga Slawnikowa
MUSIK, THEATER, FILM
Warum komponieren Komponisten aus fast allen Kulturen westliche Neue Musik? Und was passiert, wenn der Westen einmal seine Definitionsmacht darüber verliert, was „moderne“ oder „zeitgenössische Kunst“ ist, wenn sich Kulturen wirklich auf Augenhöhe begegnen? Welcher Reichtum könnte aus interkulturellen Begegnungen resultieren, wenn sich etwa Europa und Asien als Gleichberechtigte akzeptieren? Über den schöpferischen Umgang mit der Musik anderer Kulturen, über das Selbstbild der westlichen Kultur und das „Andere“ des Westens reflektiert Wolfgang-Andreas Schultz in Musik und Globalität. Über Rationalität und Spiritualität, Material und Seele, Romantik und Mystik, Syntax und Semantik, Traditionen und kompositorische Tabus.
Hohes, langes spitzgieren decrescendiert aus dem dritten, das vierte und fünfte Séparée lassen durch atemstarre und nichts aufhorchen. Ist da überhaupt jemand drin? Vielleicht sollte man reinsehen, vielleicht fände man darin eine/n Partner/in für die geheimsten Wünsche? ... aus dem vierten endaufjuchzer auf höchster reststimme in einer Sprache, von deren Existenz man bislang nichts wußte. Aus dem fünften kommt plötzlich ein extrem brutal hart gestaffelter aufschrei mit unhörbar gespenstischen echofäden, die starrweit in das erschreckte Bewußtsein eindringen.“ Einblicke in die Opernwelten des Komponisten Hans-Joachim Hespos gibt Tobias Daniel Reiser in Obszöne Séparées.
In einem Gespräch mit Tobias D. Reiser plädiert der Komponist Hespos für eine wahre zeitgenössische Oper. „Oper, das ist vor allem die stimme, dieser wahnsinn des kehlkopfes ... kein text, keine erzählgeschichten, keine literatur! das maul ist der text!“ Zur Oper gehört: spannung der szene, unser drama, das schöne/entsetzliche, die bilder/gegen-bilder von uns men­schen und unseren UN/taten. ... sie sind da, die wunder­baren jung/alten künstler/könner/visionäre/spinner, es gibt ihre neu­artig unerhörten partituren, konzepte, an­schübe, unglaublichkeiten ... es braucht nur entfaltungsraum für die vielen wunderbaren schöpferischen zellen ...“
Frank M. Raddatz spricht mit einem Wunderkind der Bühne und entschiedenen Kritiker des Regietheaters, der zu den erfolgreichsten Regisseuren der deutschen Theaterlandschaft zählt: René Pollesch, der als Autor in der Tradition Shakespeares seine Aufführungstexte mit den Schauspielern während der Proben entwickelt, ein eigenes Theaterformat entworfen hat; jenem Kulturkämpfer, der Schauspieler als Mitautoren versteht, der die Mechanismen und Hierarchien des Stadttheaters kennt und nicht müde wird, sie auszuhebeln: Der Pollesch-Code.
Maja Turowskaja porträtiert den Mikrokosmos Mosfilm. Die legendäre Institution der Filmgeschichte ist heute eines der modernsten Filmstudios Europas, zu Zeiten der Sowjetunion wurden hier 2.500 Filme gedreht. Mosfilm war die kommunistische Traumfabrik. Die russische Drehbuchautorin und Filmhistorikerin sondiert das Jahr 1937; Jubiläumsjahr der Revolution und Jahr des Großen Terrors. Während der Stalinzeit war Mosfilm ein heikler Ort voll steiler Karrieren und jäher Abstürze, voll Lebensgier und todbringender Fehler. Ein Rückblick auf Traum und Revolution, Avantgarde und Terror, Karrieren und Kollektivismus.
BRIEFE, KOMMENTARE, KORRESPONDENZEN
Der englische Schriftsteller Nicholas Shakespeare erinnert an einen Pariser Flirt von Gabriel García Márquez mit einer späteren Figur einer seiner Erzählungen: Eine Muse von Márquez. Eduardo Subirats fragt: Kann Spanien modern werden? Über die bisher stets scheiternde Hoffnung, ein rückständiges und korruptes nationalkatholisches Spanien zu reformieren. Tom Engelhardt erinnert in Kriege ohne Antikriegsbewegung an I. F. Stone, einen Vorkämpfer der Antikriegsbewegung zu Zeiten des Vietnamkriegs.
Urvashi Butalia über die Zeit der Reife in der größten Demokratie der Welt. Die Ergebnisse der jüngsten lokalen Wahlen in Neu Delhi haben erstaunt. Von den siebzig Sitzen des  Parlaments gingen 67 an die Aam-Aadmi-Partei (AAP), die „Partei der einfachen Menschen“ während die konservative Bharatiya Janata Party (BJP) des Premierminister Narendra Modi eine krachende Niederlage erlebte. Eine zunehmende Gewöhnung an Unfreiheit in seinem Heimatland konstatiert Michail Ryklin: Nur fünf Prozent der russischen Bürger sollen Karikaturen für eine Ausdrucksform der Pressefreiheit halten. 89 Prozent der Russen sprechen sich gegen die Veröffentlichung von Zeichnungen im Stil von Charlie Hebdo aus. Auch die Verfolgung von Künstlern durch Nationalisten, Kirche und Justiz trifft nicht auf größeren Widerstand. Rußland scheint zunehmend aus dem kulturellen Raum Europas herauszufallen, die Mehrheit seiner Bewohner sich an Unfreiheit zu gewöhnen.
KUNST UND PORTFOLIO
Seit den 1960er Jahren sind Bilder von Gunter Rambow auf der Straße zu sehen, denn er macht hauptsächlich Plakate – politische Statements, auch Theater- und Opernplakate. Bei ihm kann auch ein Theaterplakat politisch sein. Rambow verdichtet Themen aus Politik, Kultur und Gesellschaft zu wirkungsmächtigen visuellen Metaphern, die von jedem verstanden werden können. Für Lettre hat der Künstler photographische Motive montiert, als Ausdruck seiner Reflexionen zur heutigen Gesellschaft.
Pierre-Elie de Pibrac wirft einen so persönlichen wie abstrakten Blick auf den Tanz und die Ausbreitung seiner Energie im Raum mittels seiner photographischen Meditation: Catharsisdas Photoportfolio
Ihnen allen wünschen wir mit dem neuen Heft gute und spannende Lektüre und einen zauberhaften Frühlingsbeginn! Bleiben Sie uns gewogen.
Ihre Lettre Redaktion

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