Freitag, 26. Dezember 2014

Ernst Stadler: Worte

Ernst Stadler 

Worte



  Man hatte uns Worte vorgesprochen, die von nackter Schönheit,
          Ahnung und zitterndem Verlangen übergingen.
Wir nahmen sie, behutsam wie fremdländische Blumen, die wir
          in unsrer Knabenheimlichkeit aufhingen.
Sie versprachen Sturm und Abenteuer, Ueberschwang und Gefahren
          und besinnungslose Schwüre.
Tag um Tag standen wir und warteten, daß ihr Wunder
          uns entführe.
Aber Wochen liefen kahl und spurlos, und nichts wollte sich
          melden, unsre Leere fortzutragen,

  Und langsam begannen die bunten Worte zu entblättern. Wir
          lernten sie ohne Herzklopfen sagen.
  Und die noch farbig waren, hatten sich von allem Erdwohnen
          und Alltag geschieden:
Sie lebten irgendwo verzaubert auf paradiesischen Inseln in
          einem märchenblauen Frieden.
Wir wußten: sie waren unerreichbar wie die weißen Wolken,
          die sich über unserm Knabenhimmel vereinten. –
Aber an manchen Abenden geschah es, daß wir heimlich und
          sehnsüchtig ihrer verhallenden Musik nachweinten.



Ernst (Maria Richard) Stadler (* 11. August 1883 in Colmar; † 30. Oktober 1914 bei Zandvoorde nahe Ypern in Belgien) war ein elsässischer Lyriker, der in deutscher Sprache dichtete.
Wikipedia

   
 
               






      

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen