Samstag, 8. Oktober 2011

Kreatives Lesen, kreatives Gespräch, kreativ ...

Kreativ ist ein magischer Begriff geworden. Er soll veredeln, wie das inflationär gebrauchte "bio". Trotzdem wird manchmal was Postives gemeint, wenn es auch peinlich, überflüssig klingt.
In der Süddeutschen Zeitung vom 16. 9. 2011 schreibt Viktoria Großmann:
"Karlsfeld: Kreatives Lesen
Gabriele Grim hat gemeinsam mit der Germanistin Luise Finger in ihrer Karlsfelder Buchhandlung einen Lesekreis erfolgreich etabliert. Das Interview über die Vorteile ein Buch gemeinsam zu lesen."

Fein und begrüßenswert der Hinweis auf ein positives Unterfangen. Aber er ist auf einer falschen Folie gedacht und geschrieben:

"Lesen muss keine einsame Angelegenheit sein. Man kann ein Buch auch zusammen mit anderen lesen und dann darüber reden."

Wann ist Lesen einsam? Ein Leser der liest, ist nie einsam. Lesen ist zwar eine solitäre, aber keine einsame Tätigkeit. Eine Leserin bewegt sich denkend, fühlend in einer komplexen Geisteswelt, ist verbunden in und mit vielen Bezügen. Die Verwechslung von solitärer Konzentration mit Einsamkeit ist ein Klischee.
Zudem kann man immer über das Gelesene reden. Wenn man will. Wenn man Partner findet. Das Eine hat mit dem Anderen nichts zu tun. Gespräche bedingen Gemeinschaft. Die geistige Gemeinschaft ist von anderer Qualität als die soziale in der realen Welt. Nicht, dass die Lesewelt, die geistige, imaginierte, eine irreale wäre. Sie anders real. Aber in der Alltagsrealität ist der Freiheitsraum etwas eingeschränkt. Als Leser verschaffe ich mir Zutritt, dringe ich ein, beteilige mich, hole mir Freunde und Feinde. Im anderen Leben, das wir das wirkliche nennen, ist dieser Freiraum dankenswerter Weise eingeschränkt: die Anderen dürfen (sollen) mitentscheiden, ob sie in Kommunikation treten (wenn wir freie Kommunikation annehmen).

Die Journalistin stellt dann aber eine wichtige Frage:

"Für den 13. Oktober kündigen Sie das nächste "kreative Literaturgespräch" an. Wie spricht man denn kreativ über Literatur?"

Die Buchhändlerin und ihre Germanistin haben beste Absichten. Sie merken nicht, dass die Anbiederung an den Markt sich in ihre Sprache eingeschlichen hat. Es reichte völlig aus, von einem "Literaturgespräch" zu reden. Ein wirkliches Gespräch ist kreativ. So, wie gekonntes Lesen. Eine gute Lektüre kann nicht nicht-kreativ sein. Es wäre ein Widerspruch in sich. Also bedarf es nicht des Attributs "kreativ". Die Werbesprache, mit ihrem Hang zu künstlichen Überhöhungen, Pleonasmen, Euphemismen etc. desavouiert.

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