Montag, 5. September 2011

Liao Yiwus "Massaker"

Drei kurze Absätze aus dem Artikel von Detlev Claussen, Süddeutsche Zeitung, 19.07.2011 über Liao Yiwu unter dem Titel „Todesfuge auf chinesisch“

Held wider Willen: Der Schriftsteller Liao Yiwu hat sich nach Deutschland abgesetzt, jetzt erscheint sein umwerfender Bericht aus dem chinesischen Gulag. Das Verbot seines literarischen Gefängnisberichtes umging er durch die Flucht aus der Heimat.

"Massaker" liest sich wie eine Todesfuge auf Chinesisch; es ist der universal verständliche Schrei der gequälten chinesischen Kreatur im Würgegriff des kommunistischen Leviathan. Im Jahr 1989 endete das Short century, ein Jahrhundert der Grausamkeit und zugleich des beispiellosen Anstiegs globalen Wohlstands. Man muss wirklich kein Chinesisch können, um Liaos Literatur zu begreifen, ebenso wie man kein Deutsch können muss, um Celans "Todesfuge" zu verstehen. Aber es hilft ungemein, wenn man sich die Welt vor Augen führt, die diese Aufschreie hervorgebracht hat.

Um aber Liaos Gedichte zu verstehen, braucht man gar nichts zu wissen. Sie wirken unmittelbar, herzzerreißend und niemals sentimental. Ja, es ist möglich, nach dem 4. Juni Gedichte zu schreiben, wenn sie den Schrei der Gequälten artikulieren. Auch Celan musste die "Todesfuge" schreiben, die er als "Todestango" vorgetragen hat, bevor sie von Feuilletonisten und Deutschlehrern sakralisiert wurde - sie ist aus sich heraus geschrieben, nicht um Ruhm zu erwerben, sondern ebenso ein Schrei wie "Massaker".
Soweit Detlef Claussen.


Dazu gäbe es viel anzumerken. Hier sollen nur drei Aspekte hervorgehoben werden: Die Etikettierung "Todesfuge auf chinesisch", die Behauptung, dass die Sakralisierung von Paul Celans Werk durch Feuilletonisten und Deutschlehrer geschah sowie die Bemerkung, zum Verständnis von Liaos Literatur brauche man „gar nichts zu wissen“. 

Nicht nur die „Todesfuge“, schier das Gesamtwerk von Paul Celan ist sakralisiert und damit über jede Kritik erhaben erhoben worden. Der unselige Vorgang ist das Resultat einer völlig unkritischen Rezeption, die dank der damaligen historischen Bedingungen einlud, diesen Dichter und seine Dichtungen zu überhöhen, weil er Dunkles, Symbolisches lieferte und einen Schauder von Schuldeinkenntnis und Abarbeitung ermöglichte, andererseits positiv für eben diese moderne Form von Kulturarbeit (Rezeption) zu instrumentalisieren war.


Diese Sakralisierung geschah natürlich durch Vermittler, seien es Journalisten oder Kritiker bzw. auch Lehrer. Aber Paul Celan war daran nicht nur nicht unbeteiligt, sondern sehr rührig in seiner gezielten Mythenpflege. Erst nach den Veröffentlichungen verschiedener Briefwechsel lässt sich belegen, dass das Opfer, als welches er litt und sich leidend hinstellte, weder einsam war, noch lebensfremd; er pflegte Affären und Beziehungen mit mehreren Frauen, nutzte diese Kontakte für sein Ego, und äußerte sich, manchmal, für uns hintennach Lesende oft wie ein Ausfluss eines Verfolgungswahn scheinend, extrem bitter, zornig, verletzend, vorurteilend, aburteilend über die vielen Nazis und Antisemiten, die ihm unrecht taten, sein Werk schändeten. 


Eine solche Schändung nennt er in einem Brief an Ingeborg Bachmann vom 12.11.1959 zu einer Rezension bzw. Kritik von Günter Blöcker hinsichtlich seiner „Todesfuge“:
„Du weißt auch – oder vielmehr: Du wusstest es einmal –, was ich in der Todesfuge zu sagen versucht habe. Du weißt – nein, Du wusstest – und so muß ich Dich jetzt daran erinnern –, dass die Todesfuge auch dies für mich ist: eine Grabschrift und ein Grab. Wer über die Todesfuge das schreibt, was dieser Blöcker darüber geschrieben hat, der schändet die Gräber.“ 


Über den Grabschänder Blöcker ließ Celan sich nochmals aus. Auch andere kamen dran, wenn auch mit anderen Aburteilsetiketten. Daraus ist ersichtlich, dass Celan selbst gewisse Gedichte nicht als Gedicht sah, sondern als heilige Grabinschriften. Zwar meint er, sie sei „auch“ eine Grabinschrift. Aber aus seiner Bewertung spricht die eindimensionale Auffassung, die das andere Mögliche neben dem „auch“ negiert, weil das „auch“ alles beansprucht und damit das Urteil spricht. Damit wird der Text ins Sakrale gehievt, dogmatisch durch Celans Deutungshoheit festgelegt und jeder Interpretation, und damit jeder Kritik, enthoben. Missversteht jemand seine Gedichte, sein literarisches Werk, als Literatur, ist er ein Schänder. Dass dies nicht erkannt und sofort zurückgewiesen wurde, diese schreckliche Anmaßung, zeigt, wie unkritisch, wie unterwürfig, wie blind die Haupttendenz der damaligen Rezeption war. 


Dichter, die keine Gedichte schreiben, die ihr Privatestes veröffentlichen, nicht aber der Öffentlichkeit das selbstverständliche Recht der eigenen Deutung und Kritik zubilligen, sind eigentlich Täuscher. 


Sein Schmerz sei ihm unbenommen, auch seine Grabinschriften. Aber warum sie dann als Gedichte, als Literatur veröffentlichen? Hielt er es nicht aus, privat zu bleiben, die Grabinschrift als solche auszugeben? 

Deshalb finde ich Detlev Claussens Vergleich von Liao Yiwus „Massaker“ mit der „Todesfuge“ falsch und untauglich, ja schädlich. Es ist nur zu hoffen, dass Liao Yiwus Werk so eine verzerrte Rezeption erspart bleibt, wie sie Celan schier erzwang. Nein, das „Massaker“ ist keine chinesische Todesfuge. Es ist ein eindrückliches Poem, das uns – gerade deshalb – erreicht und betrifft (betroffen macht).
Im Briefwechsel von Paul Celan mit Ingeborg Bachmann ist nachzulesen, wie sehr sie bedauerte, dass offenbar Celan jede positive Regung und Aufnahme seiner Gedichte geflissentlich übersah oder anders deutete, wie sehr er also seine Opferrolle pflegte. Das muss in der Beurteilung des Sakralisierungsprozesses mitberücksichtigt werden. 


Nun zum Verständnis von Literatur, sei es solche von Celan oder solche von Liao. Jedes literarische Verständnis ist mehr als Sprachbeherrschung der Sprache, in welcher die Literatur verfasst oder in welche sie übersetzt ist. Klar muss man nicht Chinesisch können. Es reicht die Übersetzung. Jeder, der die Übersetzung liest, weiß, dass es nicht das Original ist. Trotzdem vermittelt die Übersetzung etwas vom Werk. Wenn dem nicht so wäre, müsste man das Übersetzen einstellen und die Werke nur den Sprachkundigen überlassen. 


Anders sieht es mit dem „Wissen“ aus. Gibt es Universalien? Die „Todesfuge“ hat ein präzises Denotat: sie ist Grabinschrift. Sie ist kein Gedicht. Auch als Gedicht zeigt der Text klare Referenz: Was sein Inhalt bildet, ist nicht „universal“, sondern deutsch, der Tod, der ein Meister aus Deutschland ist. Alle Kritik vom Überlebenden Paul Celan orientiert sich und richtet sich auf und am Holocaust, den Nazis. Das Grauen ist präzise umschrieben, genau adressiert. Frühere Deutungsversuche, sie zu „universalisieren“, wurden als Angriff auf das Opfergedenken, als Bagatellisierung der Nazibarbarei und Ähnliches abgeurteilt. Celans Werk lebt von dieser Ausrichtung. 

„Massaker“ ist eine Antwort auf die chinesische Barbarei im Juni 1989. Es ist also ebenfalls adressiert und zeitbezogen. Aber es bindet sich nicht in einer präferierten Deutung. Noch wird keine Deutungshoheit angemeldet und verfolgt, wiewohl die Reaktionen des chinesischen Staates als eine Seite einer Deutung verstanden werden können. Der Unterschied von Liao und Celan liegt auch darin, dass Liao IN der Zeit zur Zeit und zur Barbarei schrieb, weswegen er verfolgt wurde. Celans Hauptwerk wurde NACH der Zeit und ihrer Barbarei geschrieben, wofür er nicht verfolgt wurde, obwohl er Kritik daran als Verfolgung sah. 


„Massaker“ wäre ohne die brutale Niederschlagung der Demonstrationen nicht entstanden. Aber es lebt weiter. Es ist nicht sakralisiert worden. Es bleibt Literatur. Deshalb ist es keine „Todesfuge“.
Aber ist dieses Poem ohne jedes Wissen adäquat zu lesen? Das ist zu bezweifeln. Natürlich kann man alles unbedarft lesen. Sozusagen „werkimmanent“. Aber wer Kontextinformationen hat, über die Gesellschaft, die Ereignisse und das Umfeld des Autors bzw. über ihn selbst, kann sein Verstehen erweitern und vertiefen. Denn jedes noch so direkt bezogene Gedicht geht, wenn es denn ein Gedicht von Wert ist, über sich oder das Bezogene, Referierte, den Anlass hinaus. Darin mag dann das liegen, was manche „universal“ oder „universell“ nennen. 





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