Mittwoch, 3. August 2011

Die Offenheit der Interpretation

In seiner Rezension von Georges-Arthur Goldschmidt "Meistens wohnt der den man sucht nebenan. Kafka lesen" bemängelt Martin Endres die Unhaltbarkeit des theoretischen, interpretatorischen Ansatzes von Goldschmidt: "Prädestinierte Verfehlung" (6.6.2011, literaturkritik.de)

"Das Ziel der Lektüre steht und stand bereits fest, bevor sie einsetzt(e) - eine philologische Haltung, die mit Kafkas poetischem Vorgehen und der Verfasstheit seiner Texte nicht deutlicher im Widerstreit stehen könnte. Vor allem dann, wenn sich die Lektüre ironischerweise größtenteils mit Kafkas "Der Process" beschäftigt. So muss man Goldschmidts Gedanken zu Beginn des vierten Kapitels seines Buches (für ihn selbst) ernst nehmen, wenn er schreibt, dass "das empfundene Wissen bei der [i.e. seiner] Kafkalektüre" das folgende sei: Es kann - das lege Kafkas Text nahe - nichts entdeckt werden, "was nicht schon ist. […] Das Wirkliche ist nur der aktuelle Zustand des Möglichen, aber es ist das einzig Wirkliche in der Unendlichkeit des Möglichen."

Hier wird eine verantwortliche Arbeitsweise, wie sie den Wissenschaften eigen ist, als unlauter, als anrüchig hingestellt. Vorab zu wissen, was man will, was man sucht, heisst nicht, Ergebnisse vorweg zu nehmen, sondern Ergebnisse nach diesem Plan dann zu suchen. Jeder Hypothesentest bedarf VORHERIGER Festlegungen. Alles andere sind sogenannte "fishing expeditions", die unwissenschaftlich sind, die die Antworten als Ausgangsbasis DANN, DANACH formulierter Fragen nehmen.

Wenn der Autor schreibt "bei der Lektüre" und der Rezensent meint höhnisch anmerken zu müssen "bei SEINER", dann ist das nicht nur pingelig, sondern falsch, weil "bei der Lektüre" nicht heißt "bei DER Lektüre" als der alleinigen. Zudem stünde so eine Bewertung im Widerspruch mit der später abgeurteilten Unverbindlichkeit und Offenheit.

Weiter Endres:
"Diese ,Prädestinierung' wird aber auch schon auf den ersten Seiten des Buches manifest, wenn Goldschmidt neben der persönlich-privaten Motivation zu seiner Beschäftigung mit Kafka davon schreibt, dass "durch neue Ausgaben, durch Erforschung und Entzifferung der Manuskripte Varianten und Abweichungen sichtbar [werden], die aber im Grunde nichts ändern". Auch wenn man jeden literaturwissenschaftlichen Anspruch an Goldschmidts Überlegungen zu Kafka fahren lässt, und auch wenn der Autor zahlreich und expressis verbis die ästhetische Lust an der Verunsicherung und dem Unvorhergesehenen bekundet: Stärker kann man die Verweigerung gegen jegliche Irritation von Seiten eines literarischen Textes kaum formulieren."

Das heißt, klare Ausgangslage, klares Erkenntnisinteresse ist negative Prädestinierung. Und weil er sich dem üblich gewordenem Grundzug nicht unterwirft, nämlich sich dankbar, schaudernd irritieren zu lassen, liegt er falsch, ist er ein Irrender. Nun, das kann durchaus sein, nicht aber aus den von Endres genannten Gründen.

Goldschmidt erklärt weniger Kafka, sondern seinen Umgang mit Texten von Kafka, seine Rezeption, seine Deutung (oder Nichtdeutung).

"Im Verlauf der hauptsächlich paraphrasierenden Kafka-Lektüre, die sich leider recht wenig innovativ (weil textfern) mit Fragen nach dem Initial des Schreibens, der Darstellbarkeit des Undarstellbaren, der literarischen Wahrheit oder dem Verhältnis von Sprache und Handeln auseinandersetzt, sind es die allgemein-resümierenden Passagen, die die problematische Grundhaltung von Goldschmidt entlarven: "Es gibt keine mögliche Wahrheit der Interpretation, alles darüber Gesagte trifft und trifft es nicht. Keiner ist kompetent und alle sind es. Niemand kann behaupten, dem, was Kafka sagt, gerecht zu werden, außer ihm selbst, Kafka. […] Jede Lesart Kafkas ist legitim und selbst begründet." "

Wenig innovativ weil textfern. Aha. Dann sind also die textnahen Verfahren innovativ? Doch nicht unbedingt. Was wäre eigentlich eine innovative Kafkalektüre? Eine, die, wie im Regietheater, den Autor und seinen Text vergewaltig, ganz innovativ?

Nun, der Aussage Goldschmidts, es gäbe keine mögliche Wahrheit der Interpretation, kann oder soll durchaus widersprochen werden. Aber die Widerrede müsste von woanders kommen. Sie müsste argumentieren. Was Endres befand, ist kein Argument, sondern ein Lamento. Er arbeitet zudem mit rhetorischen Untergriffen. Denn etwas, das "entlarvt" wird, kann nicht gut sein, war intendiert verdeckt, maskiert, segelte und falscher Flagge. Der Rezensent als Retter, indem er entlarvt bzw. auf die Eigenentlarvung hinweist.

Das Problem liegt in der von Goldschmidt behaupteten Relativierung. Endres geht im nächsten Absatz darauf ein:

"Diese scheinbar kritische Haltung gegenüber der eigenen Souveränität, mit der gerade Goldschmidt selbst mit Kafkas Texten ,verfährt', kippt in ein rhetorisch-aufgeblähtes anything goes - jene selbst gezüchtete Krankheit, mit der sich die Philologie seit Jahr und Tag immer wieder neu um ihren eigenen Anspruch betrügt und sich (was noch schlimmer ist) ihrer Wissenschaftlichkeit beraubt. Der Entmündigung des Lesers damit entgegenzuwirken, dass man ihm von vornherein einen unverbindlich-grenzenlosen Verstehens- und Deutungs-Kredit einräumt, führt letztlich allein dazu, den literarischen Gegenstand zugunsten eines hemmungslosen Subjektivismus zu entwerten."

Goldschmidt als Kranker, der, wobei er unfreiwillig sich bzw. seine wahren Thesen noch entlarvt, nur scheinbar kritisch ist, der täuscht und betrügt. Einer, der der Philologie, also der Wissenschaft schadet, indem er pseudowissenschaftlich sich aufbläst. Starker Tobak.
Der interessanteste Befund von Endres ist aber sein Schlusssatz vom vermeintlichen Entgegenwirken der Leserunmündigkeit durch einen hemmungslosen Subjektivismus. Ähnliches war in den Sechziger- und Siebzigerjahren vor allem bei marxistischen Kritikern zu lesen, die genau wussten, nach welchen Richtlinien einer eingeforderten Deutung (entsprechend der herrschenden Deutungshoheit) was wie zu bewerten war. Die ließen sich damals nicht vom Gerede subjektiver Deutungsfreiheit irre machen. Die forderten Linie und ihre Beachtung. Das war noch alles klar.

"Einer solch freihändig-privaten Lektürepraxis, wie sie Goldschmidt nicht nur abstrakt vorschlägt, sondern größtenteils an den aus dem Kontext gelösten Textstellen demonstriert,..."

Es geht um den Affront des "freihändig-privaten". Der Autor erdreist sich, nicht die gängigen Interpretationsregeln zu beachten. Er entfernt sich damit aus der scientific community, aus der Gemeinschaft der Vernünftigen. Er ist "freihändig-privat", und das gilt soviel wie wertlos, verwirrend, verworren, nicht ernst zu nehmen.

Was wäre das positive Gegenteil? Endres nennt es:

"Nur eine radikale, rückhaltlose und sozusagen un-prädestinierte Aussetzung an den Text und seine Verfasstheit nimmt ihn "beim Wort" und ermöglicht eine Erfahrung, die zeigt, dass für Kafka "die Sprache kein Instrument zum Weltgebrauch" ist. Dies hat Goldschmidt leider nicht geleistet, was dazu führt, dass ihn die Enttäuschung über das eigene Vorgehen eine resignative Zurückweisung aller Interpretationsansprüche formulieren lässt: ..."

Goldschmidt setzte sich nicht dem Text aus. Er erlaubte sich seine eigene Lektüre, anstatt die rückhaltslose, un-prädestinierte. Er war so frech, selbst zu denken, auf die Gefahr hin, sich zu verrennen. Aber hat den heiligen Text geschändet. Ein Schänder.

Vielleicht liegt Goldschmidt falsch. Wenn man so stark die Unverbindlichkeit von Interpretationen betont, läuft man sicher Gefahr, nicht mehr argumentieren zu können. So eine Position verdient aber andere Antworten. Denn sie illustriert eine Problematik, die nicht nur eine persönliche des Autors ist, sondern eine der Zeit. Endres tut so, als ob noch Verbindlichkeiten herrschten, wie zu Zeiten der alten Schulen oder wie zu Zeiten des realen Sozialismus, als die Aufgaben klar umrissen waren, die Ziele bekannt, die Mittel ebenso. All das unterschlägt der Rezensent, indem er sich an die Person klebt, das Problem "privatisiert".

Der Vorwurf des "Subjektivismus" war einmal in den realsozialistischen Ländern der Vorlauf zum Berufsverbot, wenn nicht zur fertigmachenden Verfolgung. Denn er wurde gegenübergestellt der realsozialistischen Vernünftigkeit. Auch wenn das, was der Terminus sagt, zutreffen mag, ist es gut, dass daraus derzeit nicht das folgt, was damals in vielen Lagern reale, konkrete Antwort und Praxis war.

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