Donnerstag, 22. Juni 2017

Lettre aktuell Nr.2/2017 Nr. 117



Lettre International Nr. 117 / Neue Ausgabe


Liebe Leserinnen und Leser, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde des Hauses,

auch im 29. Jahr erstrahlt Lettre International Nr. 117 in farbenfroher Heiterkeit und Fülle – eine gleichermaßen vergnügliche wie inspirierende Ferienlektüre und äußerst charmante Sommerbegleitung. Ab heute, Donnerstag, den 22. Juni 2017, liegt die neue Ausgabe im Bärenkostüm für Sie bereit, im Buchhandel, am Zeitungskiosk, an Bahnhöfen und Flughäfen oder ab Verlag.
Was erwartet Sie? Wir rekonstruieren Paul Celans bittere Begegnung mit Martin Heidegger, berauschen uns am Reichtum der literarischen Sprache, belauschen träumerische Gesänge aus dem Blau des Himmels, explorieren Westdeutsche Subkultur und 68er Spätfolgen, bevor wir uns dem alten Kontinent widmen:
Europas genetischer CodeNarrative über EuropaEuropa ohne LeidenschaftAntieuropäischer PopulismusEuropa und die GastfreundschaftEuropas südliches Labor: Neapel.
Weiter geht es mit Reportagen vom Schlachtfeld Mossul, aus London und Brasilien. Wir erfahren Erstaunliches über Schwarze Panther im Algerischen Exil. Wir bestaunen die Russische Oktoberrevolution vor 100 Jahren und die merkwürdige Rolle Maxim Gorkis als Revolutionsschriftsteller. Wir gehen auf Tuchfühlung mit Hegels Eule der Minerva und Benjamins Engel der Geschichte, bevor wir Lacans Geheimnis lüften, uns der Psychomagie des Kinos ergeben und die Smarte neue Welt erforschen.
Martin Assigs fulminante Zeichnung und Quentin Bertoux’ Photoinszenierungen machen das Heft auch ästhetisch zum Leckerbissen.
BITTERE BEGEGNUNG
Ein denkwürdiges Ereignis rekonstruiert Franz Maciejewski in Fahrt durchs Gebirg: die legendäre Begegnung zwischen dem jüdischen Dichter Paul Celan und dem Philosophen Martin Heidegger, der mit dem Nationalsozialismus sympathisiert hatte, in Heideggers Hütte in Todtnauberg am 25. Juli 1967. Ein Aufeinandertreffen voll Hoffnung auf ein Wort, auf Erklärung, auf Verstehen – scheiternd, festgehalten in der Sprache des Dichters: „Weil er zur Antwort nicht fand, weil mich sein Ant-Wort nicht traf, trat niemand ein ins Gespräch, beschritt niemand die Herzwege, die Lippenpfade. Weil seine Zunge sich wund wühlte nach dem Trüffelwort, sprach niemand zu mir, Niemand, der Stumme, mit niemand anderem unternahm ich die Fahrt durchs Gebirg, die Fahrt im Gefährt, das waghalsige Stück (wo, wenn nicht im Gebirge, werden die Hälse frei?) ...“
REICH DER ZEICHEN
Was ist Sprache? Wie funktioniert sie? Die Sprache tropft, behauptet Hannes Böhringer und kommt Lieblingsautoren auf die Schliche. Schnee ist die Sprache in Warlam Schalamows Erzählungen aus Kolyma und legt sich über alle Dinge; Ausdruck des Verlangens ist Sprache in Tschechows Erzählung Kleiner Scherz und ähnelt der Liebe; ein Dickicht, ein Gedicht von Ästen, Blättern und Früchten, ja ein Wald ist die Sprache von Alan Milnes Pu der Bär; Beruhigung und Beunruhigung sind die Schlummerlieder bei Federico García Lorca und überbrücken Entfernungen. Zu Drüsen, Knospen, Früchten schwellen die Worte an bei Juan Rulfos Macario. Sprache schenkt Freiheit und Verbindlichkeit, Sprache tröstet, wirft um, hellt auf, aufhellt, bindet. Menschwerdung – das ist die Infektion mit dem Virus der Sprache.
Täglich ruft der Erzähler in Das Schweigen des Meeres eine Dame an, die den Hörer abnimmt, ihm zuhört, aber beharrlich schweigt, so wie die beiden Hausbewohner in der berühmten gleichnamigen Novelle des französischen Résistance-Kämpfers Vercors gegen die Illusion einer baldigen Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland nach dem Krieg. Die Hausbewohner lassen den Eindringling, einen deutschen Besatzungsoffizier in Frankreich, reden und reagieren mit verschworenem Stillschweigen als Widerstand gegen die Zumutung der Vertraulichkeit. Bora Ćosićs Erzähler philosophiert über das Unausgesprochene, das Warum des Schweigens, das Wie des Schweigens, das von Schweigen beharrlich Versiegelte.
Sommerlichen Träumereien und Gesängen aus dem Blau des Himmels ergibt sich Jean-Claude Pinson. Er lauscht Leopardis gefiederten Freunden und läßt sich von den volatilen Wesen bezaubern. Ein Essay von Leopardi wird ihm zum Leitfaden glasklaren Denkens, Hörens, Meditierens. Eine Hängematte im Schatten einer Düne; Blätterwerk, welches das Himmelsblau durchbricht, und in der Ferne das Houpoupoup der „African Queen“, des Wiedehopfs. Ein berauschendes Erlebnis, im Freien zu lesen, sich in die Vögel zu versetzen. Schaffen wir es, wozu der Dichter uns einlädt, die Vögel zu verstehen, die beides können, fliegen und singen? Und in deren Brust nur eine Dichterseele wohnen kann: Brüder Vögel.
Der Schriftsteller Bernd Cailloux, Jahrgang 1945, ist Chronist des westdeutschen Undergrounds. Er verkehrt in der Düsseldorfer Szene mit Künstlern wie Sigmar Polke, Jörg Immendorff, Günther Uecker oder Gerhard Richter, erlebt die Anfänge von Kraftwerk und der Elektropopszene mit, taucht die revoltierende Jugend der Bundesrepublik ins Disko-Stroboskoplicht, probiert bewußtseinserweiternde „Trips“ aus, bevor er im kommerziellen Hamburg das Drogenbusiness kennenlernt und später im Berliner Biotop ins subkulturelle Milieu eintaucht. „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts begriffen.“ – nach dieser Devise Kierkegaards wird Cailloux zum literarischen Protokollanten seiner Generation. Er schildert, wie antibourgeoise Außenseiter unfreiwillig zur Avantgarde der gerade entstehenden Kulturindustrie werden und wie unangepaßte Musik, Mode, Medien, Film rapide von der Lifestyle-Industrie integriert und vermarktet werden. Inzwischen herrscht flächendeckend ein konsumistisch-individualistischer Lebensstil, und die heutige Generation sehnt sich nach Etablierung. Diejenigen, die versuchen, der Idee der Revolutionierung der Gesellschaft dennoch treu zu bleiben, hatten einen hohen Preis zu zahlen. „Wenn du eine Geschichte mit Blut bezahlt hast, dann kannst du sie so schreiben, wie du willst ...“ (Céline). Eine tour d’horizon mit Frank M. Raddatz durch die Geschichte des westdeutschen Undergrounds im Spiegel der Literatur: Subkultur, SDS und LSD.
WAS WIRD AUS EUROPA?
Die Identifikation mit dem Projekt „Europa“ nimmt ab. Das einst stolze Projekt eines geeinten Europas wird von größeren Teilen der Bevölkerung zunehmend angezweifelt. Europa hat an Ausstrahlung, Glaubwürdigkeit und Faszination verloren, erscheint erschöpft, paralysiert und ideenlos. Was sind die tieferen Ursachen? Woher der Mangel an überzeugenden Konzepten, begeisternden Visionen? Wohin geht die Reise, Europa?
Europas genetischen Code dechiffriert Marcel Hénaff: „Europa wird von Zweifeln gequält; es geht ihm schlecht. Es hat einen Ruck nötig. Insofern ist die derzeitige Krise heilsam. Sie ruft den Europäern in Erinnerung, daß sie ihre gemeinsame Existenz neu denken müssen. Die Tatsache, daß diese Frage sich ihnen als Europäer stellt, ist für sich allein schon bemerkenswert. Das bedeutet, daß es nunmehr das Gefühl eines geteilten Schicksals und einer kollektiven Verantwortung gibt. Noch hundert Jahre zuvor war nichts weniger evident. (...) Man sagt noch immer gerne, daß Europa aus der Verschmelzung dreier großer unterschiedlicher Traditionen hervorgegangen sei: Athen, Rom und Jerusalem. Sie hätten sich auf wundersame Weise verbunden, verschmolzen und ergänzt, um diese neue und beispiellose Gestalt hervorzubringen: die europäische Kultur. Der Erfolg ist unbestreitbar. (...) Es gilt jedoch festzuhalten, daß diese Sicht auf die Spezifität Europas eine merkwürdige Art von blindem Fleck aufweist. Europa ist nicht im Dreieck Athen-Rom-Jerusalem entstanden, sondern vor allem in einem geographischen Gebiet, das Gallien, die iberische Halbinsel, die britischen Inseln, die germanische und die skandinavische Welt sowie den Osten Europas einschließlich der slawischen Welt umfaßt. Nun waren diese Regionen aber Teil dessen, was die Griechen wie die Römer als „Barbaren-Gebiet“ bezeichneten. (...) Das postimperiale Europa hat sich ideologisch betrachtet unter Zurückweisung der Kulturen der Barbaren herausgebildet (...) Der Vorgang, dem die „Barbaren“ ausgesetzt waren, nämlich des eigenen Gedächtnisses beraubt zu werden oder zumindest dessen Legitimität in Frage gestellt zu sehen, ist eine Tatsache, deren Langzeitwirkungen noch nicht genügend ermessen wurden. All dies hat tiefe Wunden geschlagen, und der Prozeß der Vernarbung ist vielleicht immer noch nicht abgeschlossen.“
Der Maulwurf der Differenz unterhöhlt das europäische Terrain, so Sergio Benvenuto. Europa scheint ihm heute vor allem ein ökonomisches Joint Venture, ein Artefakt der Politik, ein Phantasma ohne Seele und Herz. Die Gründerväter Europas hatten klare und kühne Ideen. Sie setzten auf die wirtschaftliche Einheit der europäischen Länder, um deren politische Einheit heranreifen zu lassen. Als 2005 das Projekt einer europäischen Verfassung von den Holländern und Franzosen per Referendum abgelehnt wurde, zerbrach dieser Prozeß und der Kampf gegen einen vermeintlichen Souveränitätsverlust wurde stärker. Der europäische Populismus bildete sich heraus. Hatten die Gründerväter auf eine universelle Öffnung der Gesellschaft durch den Markt gesetzt, so wächst heute der Widerstand gegen globalen Liberalismus und die Wiedererlangung der nationalen Souveränität wird zum erstrebenswerten Ideal der unteren sozialen Schichten. Europa ist nicht zum Europäismus konvertiert; vielmehr scheint sein zentraler Antagonismus heute die von Europäismus versus Antieuropäismus zu sein.
Unter der Folgenlosigkeit der Diskussion über angemessene Lösungen für die Flüchtlingsproblematik leidet Priya Basil.Bedingungslose Gastfreundschaft ist unmöglich. Aber sie ist die einzig mögliche Gastfreundschaft und die einzige, die diesen Namen verdient.“ Dies formulierte Jacques Derrida, und die Autorin macht sich dies zu eigen. „Die Europäische Union ist geradezu der Inbegriff der Vorstellung des Unmöglichen als Bedingung der Möglichkeit. Das Unterfangen, Dutzende unterschiedlichster Nationen zu einen, indem man Grenzen öffnet, Ökonomien aufeinander abstimmt und gleiche Rechte und Chancen für mehrere hundert Millionen Bürger gewährleistet, ist schlicht phantastisch – in dem Sinne, daß es so unwahrscheinlich wie grandios anmuten muß. Wären die Aspirationen der Union vernünftiger gewesen, wir wären womöglich jetzt nicht, wo wir sind – an einem Punkt nämlich, an dem zahlreiche Europäer über weite Teile ihres Kontinents eine Art bedingungsloser Gastfreundschaft erfahren haben, die hier noch vor einigen Jahrzehnten unvorstellbar gewesen wäre und es in vielen Teilen der Welt heute noch ist.“ Hart an der Grenze
Der Europäer Paul Valéry träumte von einem Europa, das weder deckungsgleich war mit der Europäischen Union noch eine Wiedergeburt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation sein sollte. Es bezog sich eher auf Albert Camus’ „Denken des Südens“, mediterran und sonnenhaft, mit katholischer Patina, in später Zeit humanistisch geworden, und es reichte von Algier nach Alexandria, von Athen und Istanbul über die Iberische Halbinsel hinauf in nördlichere Gefilde. Valéry setzte auf eine „Politik des Geistes“ und auf eine Politik der Elite. Doch die Aura dieses faszinierenden Traums hat sich verflüchtigt. Europa fehlt es an Leidenschaft und der pragmatische Europäer von heute hat sich die Utopien des Homo oeconomicus von jenseits des Atlantiks zu eigen gemacht. „Es geht nicht mehr darum, daß Amerika die Welt führt, sondern daß die Welt zu Amerika wird“, meinte der Stratege Thomas Barnett, und setzte dabei auf den Quellcode der modernen Globalisierung, nämlich die Universalisierung des liberalen Wirtschaftsmodells. Was die Alte Welt betrifft, ist dieses Ziel fast schon erreicht, meint Régis Debray in Europa ohne Passion.
Achtung, Europäisches Narrativ. Mit Vorsicht zu behandeln!“ warnt Wolfgang Streeck in seiner Analyse der rhetorischen Strategien der Europapolitik. Je mehr die Zweifel um sich greifen, daß die Europäische Union, so wie sie ist, die ideale politische Organisationsform Europas darstelle, desto erfindungsreicher wird die Arbeit an verführerischen sprachlichen Formeln. Die Meistererzählungen der Narrative über Europa handeln von der europäischen Identität und akzentuieren je nach politischer Konjunktur „Wohlstand“, „Demokratie“ oder „Wirtschaftsliberalismus“ oder auch das „europäische Sozialmodell“. Der aktuelle Modebegriff heißt „Frieden“. Nicht selten sakralisieren solche Meisternarrative das Objekt ihrer Begierde, doch gilt es sich bei weltlichen Institutionsgefügen, jeglicher Art von Sakralisierung zu widersetzen. „Manchmal müssen Europäer antieuropäisch sein, in dem Sinne, daß sie sich der verwalteten Sprache des europäischen Projekts entgegensetzen, denn die Gefahr ist nicht gering, daß das europäische Projekt von seinen offiziellen Repräsentanten an die Wand gefahren wird.“
Der Bürgermeister von Neapel hat einen Traum: Neapel mit all seinem Chaos und all seiner Anarchie wird zum kreativen Labor Europas. Das ist kein größenwahnsinniger Provinzialismus, sondern der Wille, einer neuen sozialen Realität zum Durchbruch zu verhelfen. Vormals unbestechlicher Untersuchungsrichter gegen die Korruption, später Mitgründer der Partei „Italia dei Valori“, hat Luigi de Magistris 2011 sein Amt in der rebellischen Stadt mit einer bunten Koalition erobert wie ein Freibeuter. 2016 wurde er wiedergewählt. Er möchte die Neapolitaner mitsamt ihrer explosiven Energie von unten mobilisieren. De Magistris will eine Stadt der kulturellen Kreativität, in der das Recht auf Arbeit mit dem auf Gesundheit harmoniert. Er kämpft gegen die Camorra, gegen Müll, Korruption und Kriminalität, gegen die Privatisierung öffentlicher Güter wie dem Wasser, gegen Gier und gegen die traditionelle feudale Machtverteilung. In seinem Neapel der Zukunft kommt dem „Sein“ ein höherer Wert zu als dem „Haben“. Eine leidenschaftliche Diskussion mit weiteren prominenten Neapolitanern, moderiert und komponiert von Frank Helbert und Gabriella Vitiello.
Von „Begegnungen im Museum der verschwundenen Dinge“ erzählt Simon Glinvad in Wankendes Europa. Sein Protagonist, ein Journalist, wird von Magenschmerzen gepeinigt und bereitet sich auf eine Operation vor, um die mysteriösen Vorgänge in seinem Inneren zu beenden. Er flüchtet sich in Lektüre und vertieft sich in die Erinnerungen des Ungarn Béla Zsolt. Dessen Buch Neun Koffer erzählt von der Flucht nach Paris, von seiner Rückkehr nach Ungarn, seiner Zeit als Zwangsarbeiter in der Ukraine, und von seiner Gefangenschaft im Ghetto von Nagyvarad. Zsolts Buch gehört zum Schrecklichsten, was der Journalist je gelesen hat. Nach seiner Operation nimmt er sich des prominenten Falles des irakischen Flüchtlings Al-Azzawi an. Der dänische Staat beschlagnahmte, gemäß eines neuen Paragraphen, dessen Bargeld zur Deckung seiner Aufenthaltskosten. Glinvad besucht Al-Azzawi mehrfach, doch er hat Zweifel an dessen Opfererzählung. Aber die Stimmen der Heimatlosen des Romans Neun Koffer arbeiten in ihm weiter. Deren elendes Schicksal im Europa der Vergangenheit, das Leiden der heimatlosen Flüchtlinge heute, und das eigene körperliche Martyrium wühlen ihn auf. Soziale Wirklichkeit, Geschichte, existentielle Probleme überlagern sich, bestärken sich, geraten in Konflikt. In diesem Europa darf es kein Handeln und keine Moral ohne verantwortungsvolle Erinnerung geben.
Eine Homilie verfaßt der Dichter András Visky in Die Schuld der Väter in den Söhnen und erinnert sich an den Wiederhall des Wortes „Europa“ in familiärer Atmosphäre, bevor er nach der Verhaftung des Vaters in der Nachkriegszeit mit seiner Mutter in ein rumänisches Arbeitslager deportiert wurde. „ ... hier ist es also, das Wort, Europa, es sticht in mich hinein, es ist einfach ein Stich im Ohr, ein kleiner Schmerz liegt darin und das Gesicht unseres Vaters, wie er sich mit dem rechten Ohr dem Lautsprecher des Radios nähert, ein entfernter, glaube ich, Verwandter, der mit mehreren Stimmen zu uns spricht und der zudem niemals allein vor mir erschienen ist, oder nackt und bloß, fettleibig oder mager, egal, doch in jedem Fall abstoßend, sondern mit vollem Namen, Freies Europa, Nachname: Europa, Vorname: Frei, Familienname: Europa, Taufname: Frei, ein sprechender und unaufhaltsam widerhallender Raum, den man, wenn ein Fremder in die Küche tritt, dennoch leiser machen, sogar ausschalten muß, über ihn lügen muß man, Freies Europa und BBC, von Abend zu Abend, letztlich zusammen, kein Kontinent und keine Insel, nicht einmal ein von Ozeanen, Meeresströmungen, Bergketten und Packeis begrenzter Erdteil, sondern, ja, jetzt gebe ich mich der Lächerlichkeit preis, eine Stimme, ein verständlicher Gedanke und eine Überlegung, ja, die unser Vater immerzu suchte mit Hilfe des Weltempfängers auf dem Tisch ...“
Augenzeugen unterwegs
In den Kriegen und Bürgerkriegen des Nahen Ostens starben Dutzende Journalisten und Photographen im Bomben- und Kugelhagel. Andere wurden verschleppt oder zur Geisel einer Kriegspartei. Die Zeiten, als mutige Kriegsberichterstatter sich frei bewegen und sogar die Fronten wechseln konnten, um die Lage auf Seiten des Feindes zu erkunden, wie es noch Peter Scholl-Latour im Vietnamkrieg gelang, sind vorbei. Journalisten sind embedded, in ihrem Aktionsradius beschränkt und kontrolliert, auf der anderen Seite der Front als Spion oder Feind eingestuft. Zudem sind sie den Widrigkeiten unvertrauter Zeichensysteme ausgesetzt. Und selten zuvor wußte man so wenig von der anderen Seite wie in den Aufstandslandschaften des heutigen Nahen Ostens. Zu den Ausnahmereportern, deren Berichte auf Kenntnis und Nähe zum Geschehen beruhen, gehört Ghaith Abdul-Ahad, der es vermag, sich im Dschungel der Frontverläufe zurechtzufinden. Seine virtuose Reportage Die Straße nach Bagdad nimmt uns mit zu den Fronten der anhaltenden Schlacht um Mossul, die dem Islamischen Staat den tödlichen Stoß versetzen soll.
Seit 50 Jahren durchquert Iain Sinclair London seine Stadt, auf Erkundungstouren zu Fuß, mit hellwachen Sinnen für feinste Spuren urbaner, sozialer und kultureller Transformationen der Themsemetropole unter dem Einfluß des aus aller Welt dorthin strömenden Kapitals. Nun ist er zu seinem letzten Spaziergang aufgebrochen. „London erledigt, fertig, done. Dabei bleibt jede Aussage unter Vorbehalt. Nichts steht fest oder auf sicherem Grund. Kommen Sie morgen wieder, und das British Museum ist vielleicht eine Eishalle, ein Boutique-Hotel, ein Fashion-Outlet. Die altbekannten Straßen sind hinter Wänden aus gebogenem Glas oder in progressiven Löchern im Boden verschwunden. Der abgedunkelte Verkaufsraum für jüdische Grabsteine des Steinmetzes in der Brick Lane wird Kunstgalerie. (...) „Alles zum besten im bestmöglichen aller Londons“, sagt der Bürgermeister, sagt der Minister, sagt Joanna Lumley. „Alles zum besten“, sagen die Ermächtigten, die Seilschaften, die Stakeholder, Investoren und Profiteure.“ Sinclairs grandiose Bilanz all seiner Touren, seines Wissens, seiner Lektüren, seiner Erinnerungen: Letztmalig London.
Brasiliens lange Reise in die Nacht beschreibt Ronel Alberti da Rosa. Die jüngsten Konvulsionen um die Absetzung Dilma Rousseffs, die illegalen Parteienfinanzierungen durch Petrobras, die Schmiergeldpraxis des Bauriesen Odebrecht und die Videodokumentation korrupter Praktiken des amtierenden Präsidenten Temer haben einen neuen Höhepunkt erreicht, und sind ohne Kenntnis der Landesgeschichte und der brasilianischen Mentalität kaum zu verstehen. Der nationale und internationale Druck sowie die medialen Manipulationen haben tiefe Spuren hinterlassen, die sich in starker Verachtung gegenüber Staat und Politik ausdrücken. Über ubiquitäre Korruption, Populismus und Machtaversion, Medienmonopole, Analphabetismus und die Reproduktionsmechanismen einer immobilen, arroganten Oberklasse. Die Unzufriedenheit mit der politischen Oligarchie wächst.
In den sechziger Jahren kämpften die Schwarzen in den USA um Gleichberechtigung, gegen die Segregation, gegen den weißen Rassismus im Alltag, um Anerkennung. Als Martin Luther King ermordet wurde, begannen Teile der schwarzen Bevölkerung an die Notwendigkeit der Selbstbewaffnung zu glauben, manche propagierten einen gewaltsamen Aufstand. Der Vietnam-Krieg loderte, in Südafrika herrschte die vom Westen unterstützte Apartheid, in der Dritten Welt kämpften antikolonialistische Guerillabewegungen, Studenten erhoben sich weltweit. Und an die Spitze der aufständischen Schwarzen in den USA setzte sich die Organisation der Black Panther. Einer ihrer prominentesten Anführer war Eldridge Cleaver. Nach einem Überfall auf einen Polizeistreifenwagen flieht Cleaver ins algerische Asyl. Bald suchen weitere „Panther“ Zuflucht im Gelobten Land des Antikolonialismus, man eröffnet dort sogar eine offizielle Auslandsvertretung. Auch Timothy Leary, Hohepriester psychedelischer Drogen, gesellt sich hinzu: Er, der Präsident Nixon als gefährlichster Mann Amerikas galt, war aus einem Gefängnis befreit worden. Elaine Mokhtefi betreute Cleaver damals für die algerische Regierung und schildert zum ersten Mal die turbulenten und frivolen Ereignisse: Panther in Algerien
REVOLUTION I – DAS ROTE JAHR
Wie läßt sich Das Rote Jahr 1917 der Russischen Revolution verstehen, der Sturz in die rasende Zeit jener Monate, die auf die bürgerliche Februarrevolution folgten? Die Armee löst sich auf, es kommt zum Aufstand und zur Machtergreifung der Bolschewiken im Oktober, zur militärischen Auflösung der konstituierenden Versammlung gegen ihre Mehrheit, – ein Staatsstreich, zur „Großen Oktoberrevolution“ stilisiert – und es folgt der blutige Bürgerkrieg der Weißen gegen die Roten. Verrückte Hoffnungen, die Träume von Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit schlagen um in politische Verfolgung, Zwangsarbeit in pharaonischen Bauprojekten, den Gulag, ein ganzes Laboratorium des neuen Menschen. Georges Nivat liest die Ereignisse durch die Augen von Dichtern wie Boris Pilnjak, Juri Olescha, Alexander Solschenizyn, Wladimir Majakowski, Marina Zwetajewa und Iwan Bunin, von Filmern wie Sergej Eisenstein, Larissa Schepitko und Nikita Michalkow oder Philosophen wie Alexej Losew und Wassili Rosanow. Eine Apotheose dieser opferreichen Oktoberrevolution kann im heutigen Rußland nicht stattfinden. Die Führung braucht Einheit, propagiert versöhnende Erinnerung durch den Glauben an einen höheren Sinn im bitteren Leidensweg des Vaterlands: Warum Rußland die Russische Revolution nicht mehr feiern kann.

REVOLUTION II – DIE MAXIM GORKI STÜRZT AB
Die Maxim Gorki, das größte Flugzeug der Welt, ist abgestürzt“, übermittelte Antoine de Saint-Exupéry am 18. Mai 1935 telephonisch nach Paris; er hatte als einziger Ausländer die Ehre gehabt, tags zuvor mitgeflogen zu sein. Das Riesenflugzeug ANT-20 des Ingenieurs Andrei N. Tupolew war auf den Namen des russischen Großschriftstellers getauft. Dieser war in Ungnade gefallen und lebte in Mussolinis Italien. Doch zu seinem 60. Geburtstag hatte die Partei beschlossen, ihn mit Ehrungen zu überschütten, um ihn zurück ins Heimatland zu locken. So trug das größte Flugzeug der Welt seinen Namen. Eine Meisterleistung der revolutionären Sowjetunion: mannshohe Räder, sechs 830-Kilo-Propeller, komfortable Salons und eine Rotationsmaschine, die zehntausend Prospekte pro Stunde drucken konnte. Der Tag des Triumphes brach an: prachtvolles Wetter, eine Million Menschen auf dem Roten Platz – doch das Begleitflugzeug, das den Luftgiganten filmen soll, gerät außer Kontrolle, zerschlitzt die Haut des Kolosses, der in Brand gerät und abstürzt. Als der gefeierte Revolutionsdichter ein Jahr später stirbt, beschlagnahmen Agenten des Inlandsgeheimdienstes sein Tagebuch und lassen es verschwinden. Was hatte Gorki ihm anvertraut? Philippe Videlier über den Sturz der Maxim Gorki.

REVOLUTION III – DIE EULE UND DER ENGEL
Zwei der wirkungsmächtigsten Symbole der Philosophie bringt die russische Philosophin Oksana Timofejewa zum Sprechen. Hegels Eule der Minerva, die mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug beginnt, ist gleichermaßen ahnungsvoller Todesvogel wie Vogel des Lichts. In ihr verkörpert sich das Paradox des Wissens selbst – wo Wissen ist, ist auch Geheimnis, wo die Ideale von Gleichheit und Freiheit verfolgt werden, gilt es, wie die Freimaurer, konspirativ vorzugehen. Hegel, so die Autorin, ist dem Ereignis der Französischen Revolution treu geblieben, und die Eule der Philosophie schaut auf das Grab der Zeit, in dem sich findet, was noch nicht geboren werden konnte – verpaßte Gelegenheiten. Auch der Benjaminsche Engel der Geschichte schaut rückwärtsgewandt auf die Weltkatastrophe. Die Eule und der Engel sind Zeugen der Apokalypse und finden darin dennoch den Beginn eines neuen Lebens. Sie sind Überlebende, und ihre Konfrontation mit Tod und Apokalypse verschafft ihnen die Möglichkeit eines Neuanfangs als Schöpfung ex nihilo. Eine philosophische Meditation über das Überleben, souveräne Einsamkeit und die Freude über die Zerstörung, die vielleicht Neues ermöglicht.

Briefe & Kommentare
& KORRESPONDENZEN
Smartphone, Smart Home, Smart Car, smartes Parken, smartes Banking, Smart Factory, Smart Watches, Smart Fashion, Smart Farming, smarte Theken und Gläser.“ (...) Deutschland und die Welt smartifizieren sich, das Immer-Neue herrscht, das digitale Zuhause ist vollends mobilisiert. Vernetzungs- und Verknüpfungsideen verfolgen aggressive, riskante und äußerst lukrative Geschäftsmodelle. Ihr Ziel ist es, Märkte auszuhebeln und umzuwälzen. Disruption heißt ihre Methode. Wir sehen globale Anbieter von Ferienunterkünften, die kein einziges Hotel betreiben, global agierende Fahrdienste ohne eigene Fahrzeuge, Verlage ohne Lektoren oder Lieferservices, die uns nahezu jedes Gericht bringen, ohne je eines davon zuzubereiten. Das sind, im Sinne des Vernetzens und Verknüpfens, allesamt smarte Konzepte. (...) Innovative Techniken hatten immer Sprengkraft, doch waren derartig gewaltige Störungen mit Ansage und Finanzkraft gegen alles, was etabliert ist, bislang unbekannt.“ Frank Beuth über die universelle Smartifizierung.
Alejandro Jodorowsky erzählt von der Psychomagie des Kinos: „Das Kino ist die umfassendste Kunst. Aber es ist ein Geschäft; es ist entstanden, um Geld zu verdienen. Es kostet so viel, einen Film zu machen! Erst einmal muß man Geld dafür auftreiben. Und das ist fast unmöglich, wenn man kein Geschäft, sondern Kunst machen will. Ich war schon immer so etwas wie ein Alien. Ein Fremder. Und es ist schwer, sich im Kino frei auszudrücken. Da sind immer die Produzenten; gegen die muß man zuallererst kämpfen. Und dann die Stars, das zweite, gegen das man ankämpfen muß. (...) Eine wahnsinnige Arbeit. Und dann hast du 35 Tage Zeit, um einen zweistündigen Film zu drehen, der gegen große Spektakel antreten muß. Man kann es sich nicht leisten, eine Aufnahme zu vermasseln, denn man kann sie nicht wiederholen, dafür fehlt einem das Geld. Es ist schwierig. Aber es ist reines Vergnügen! Ein nicht endender Orgasmus!“
Er hielt sich an keinerlei Regeln, überfuhr rote Ampeln, ignorierte die Vorfahrt und schoß über jede Geschwindigkeitsbegrenzung hinaus. Genauso ignorierte er offizielle Regeln psychoanalytischer Sitzungen, hielt stattdessen zeitlich flexible Gesprächsstunden ab, nahm sich seine 43 Jahre jüngere Patientin zur Geliebten, besuchte gegen den Widerstand eines berühmten Psychoanalytikers die Hitler-Olympiade 1936, war Freund der Surrealisten und wollte alles: Frauen, Geld, Wissen, Denken, aber – anders als Sartre – sprach er nie über Freiheit. Sergio Benvenuto nimmt Catherine Millots Erinnerungen an ihr Leben mit Jacques Lacan, einem der einflußreichsten Psychoanalytiker des 20. Jahrhunderts, zum Anlaß, Puzzlestücke eines enigmatischen Dandys zusammenzusetzen: Lacan – Der Preis der Einsamkeit
Wie Kafkas hilflos auf dem Rücken liegender Käfer möchte der passionierte Pendler Fabio Stassi nicht enden. Die Mühlen der Zeit und der Gewöhnung lassen aus jungen und couragierten Menschen „Ungeziefer“ werden. Pendler, die, wie Stassi selbst, tagein tagaus, zahllose Kilometer mit der Bahn zur Arbeit fahren und deren Wahrnehmung vom monotonen Rhythmus zivilisatorischer Rituale formatiert wird, kann diese niederdrückende Verwandlung ereilen. Gegengift und Mittel zu einer schöneren Metamorphose kann nur die Literatur sein. Zum Beispiel die Geschichten der Cronopien und Famen von Julio Cortázar. Schon kann man, selbst als Pendler, federleicht und flinker noch als ein Eichhörnchen werden. Fabio Stassi reist Im Zug mit Gregor Samsa
Urvashi Butalia berichtet aus Neu-Delhi Frauen in Nagaland. Vielleicht sah es in den Anfängen unserer Kultur ähnlich aus zwischen Mann und Frau: Die Männer im nordostindischen Nagaland kämpfen gegen die Frauen ihres Volkes. Und umgekehrt. Ihre ursprüngliche Beschäftigung, das Kriegswesen, insbesondere gegen den indischen Staat, haben die Männer im Zuge der Modernisierung aufgeben müssen. Die dadurch entstandene Leere hat sich im Verlauf der Zeit auch mit Drogen und Aids, als einer ihrer Folgen, gefüllt. Auch die Krankheit des Ressentiments macht sich breit in einem Konflikt zwischen staatlich zugesicherter tribaler Tradition und staatlich vorgeschriebener Frauenquote (33 Prozent). So stehen sich Männer und Frauen in einem Grabenkrieg gegenüber – Frauen vertreten durch Verfassung, Gesetz und Moderne gegen die Männer, bewaffnet mit Tradition und Identität.
Kunst und Photographie
Martin Assig ST. PAUL
Eine phantastische, farbintensive, überreiche Welt bietet sich dar in den Strukturen und Masken, Ornamenten und Figuren, Linien und Tafeln, geometrischen Ordnungssystemen und imaginären Objekten der Arbeiten der Serie St. Paul. Die Sonne ergießt sich gleißend, ein Universum eröffnet sich, Mensch legt sich auf Natur, Schiffe kentern, Pferde stürzen. Schöpfung, Eröffnung, Scheitern, Apokalypse. Es streuen sich Sprachfragmente ein in diese bildhafte Prachtentfaltung. Worte als Fragmente eines assoziativen Gedankenstroms, Wort-Bild-Konstellationen als Öffnung von Gedankensphären. Jede Arbeit gibt Einblick ins künstlerische Universum des Zeichners, bildet jene Szenerie, in welcher der Künstler als Mensch Fragen für alle Menschen stellt. Ein Malen, das in existentiellen Befragungen den Ort seiner Authentizität findet und dabei zur Feier der Welt einlädt.
Der französische Photograph Quentin Bertoux versteht sich als éclaireur, als Aufklärer, als Kundschafter. Er möchte die Intelligenz der Betrachter seiner Bilder entzünden. Im sanften Licht seiner schelmischen Kompositionen erstarrt das Leben, schweigsam, immobil, um sich in eine Erzählung zu verwandeln, eine Geschichte für das Auge, das zuzuhören weiß: Vues de l’esprit / Nature morte.
VORSCHAU HERBST
LETTRE 118 – Bühnenzauber, Theaterdonner
Das am 28. September 2017 erscheinende Herbstheft von Lettre International Nr. 118 wird sich unter anderem in einem reichhaltigen Schwerpunkt dem Theater und Musiktheater widmen. Großzügige Spielplananzeigen erhalten Sonderrabatte! Bitte sprechen Sie uns an, z. B. per Email: anzeigen@lettre.de
Wir wünschen Ihnen sommerliche Freuden aller Art und eine begeisternde Lektüre!
Bleiben Sie uns gewogen und bitte vergessen Sie nicht: Abonnements sind unser Lebenselixier!
Mit den besten Grüßen,
Lettre International

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