Donnerstag, 13. März 2014

Lettre International Nr. 104 / Neue Ausgabe

Die Zeitschrift Lettre International liegt in der Gleichgewicht Bibliothek, Hauptstr. 13, 2265 Drösing, auf. (Info zu Öffnungszeiten hier!)
 
 
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

Nun ist er endlich kommen doch / in grünem Knospenschuh“ so Theodor Fontane, und auch wir sind bereit: Heute, Donnerstag, den 13. März 2014, erscheint die Frühjahrsausgabe Nr. 104 von Lettre International, die das 26. Jahr unserer publizistischen Aktivität eröffnet. Mit über 1.200 neuen Abonnenten seit vergangenem Oktober blicken wir zuversichtlich voraus. Werden auch Sie Mitglied im Klub, gönnen Sie sich den Romanée-Conti unter den Zeitschriften! Eine weltoffene, unabhängige, vielstimmige Zeitschrift erwartet Sie!

Die aktuelle Ausgabe widmet sich dem Umbruch von 1989 als Weltereignis: Neues Europa, andere Welt. Sie enträtselt die Biographie eines berüchtigten Attentäters und untersucht das Brodeln in islamischen Gesellschaften. Reportagen führen durch Italien, von Petersburg nach Wladiwostok, ins Erdölgebiet von Aserbaidschan, nach Prag und Kigali. Wir sind zu Gast im Theater und bei Künstlern, genießen einen legendären Tropfen, trainieren in der Muckibude und entschweben in kosmische Unendlichkeiten.

Die portugiesische Künstlerin Adriana Molder gestaltet die Ausgabe mit atemberaubenden Gouachen: Blutbad. Photographien von Joachim Richau entführen uns nach Skandinavien: Stenbrott.

Die spanische Schriftstellerin Nuria Amat geht in ihrem essayistischen Politthriller einem Geheimnis der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts nach: dem Mord an Stalins Gegenspieler Leo Trotzki im mexikanischen Exil, 1941 durch Ramón Mercader. Wie wurde ein 27-jähriger Katalane, Sproß des Bürgertums, zu einem der kaltblütigsten Mörder des 20. Jahrhunderts? Welche Rolle spielte seine Mutter, eine kommunistische Kämpferin im Spanischen Bürgerkrieg? Wie bildete man ihn zum Attentäter aus? Amat recherchierte jahrelang zur Persönlichkeit des Mörders, zu den Motiven des (von Stalin angeordneten) Verbrechens und zur Struktur des sowjetischen Spionagenetzes, als dessen bedeutendster Agent Mercader bald galt. Nachdem er Trotzki in seinem Haus mit einem Eispickel ermordet hatte, verbrachte er 20 Jahre in einem mexikanischen Gefängnis, ging nach der Entlassung in die Sowjetunion und siedelte später nach Kuba über, wo er bis zu seinem Tode lebte. Über die Drahtzieher des Attentats schwieg er bis ins Grab.

1989 ALS WELTEREIGNISJacques Rupnik, langjähriger Berater des tschechischen Präsidenten Václav Havel und eine profunder Analytiker Europas, unternimmt in seinem Essay 1989 als Weltereignis den Versuch einer Klärung. 1989 gilt als Jahr des Wunders. Diktaturen und die vom Kalten Krieg bestimmte internationale Ordnung brachen zusammen. Es war auch das Jahr der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung in China und das Jahr, in dem Ajatollah Khomeini die Fatwa gegen Salman Rushdie verkündete. Es war der Abschluß des „kurzen 20. Jahrhunderts“, das von zwei Weltkriegen und zwei totalitären Systemen geprägt war, die in Europa ihren Ursprung hatten. Und es war möglicherweise das letzte Mal, daß Europa Schauplatz eines Weltereignisses war. Danach begann das globale Gravitationszentrum, sich vom Atlantik zum Pazifik hin zu verschieben. Was ist aus den großen Hoffnungen geworden, die mit den damals zentralen Begriffen von Zivilgesellschaft, Menschenrechten, Frieden und demokratischer Revolution verbunden waren? Rupnik skizziert die fundamentale Transformation des politischen Weltsystems, und zeigt, wie wir in zweieinhalb Dekaden von der „Samtenen Revolution“ und der Ausbreitung der Demokratie zu einem Europa gelangt sind, das sich vereint findet in der größten Finanzkrise seit 1929 sowie einer Krise der Demokratie, die durch Technokratie und Populismus verstärkt wird. Der Glaube an die europäische Idee wird schwächer. Worin könnten Fortschrittserwartungen noch wurzeln? „Jede Suche nach einem Ausweg aus der schwierigen Lage muß beginnen mit einer Reflexion über die Versprechen und Illusionen, über die Errungenschaften und Sackgassen von 1989“. Rupnik beginnt damit.

Für den Dichter und Dissidenten Václav Havel begann das Jahr 1989 im Gefängnis; gegen Ende desselben Jahres residierte er als tschechoslowakischer Präsident im Prager Schloß. Sein Schicksal symbolisierte das historische momentum. Lettre präsentiert einen unbekannten Text von Havel: Geschichte und Geduld. Darin resümiert er die Erfahrung der „Samtenen Revolution“. Er beschreibt die Verlegenheit der Dissidenten, als das totalitäre System 1989 wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel und sie nun politische Verantwortung übernehmen mußten. Überrascht und unvorbereitet suchten sie in komplizierten Situationen nach politischen Lösungen. Havel reflektiert über das Erfordernis der Demut und die Schwierigkeit, Verantwortung zu übernehmen, ohne den Ausgang der Dinge zu kennen, und über die Unvorhersehbarkeit der Geschichte.

Ungarn. Horthy ist eine fulminante Abrechnung Lacy Kornitzers mit der in Ungarn grassierenden Geschichtsklitterung und Rehabilitierung des Reichsverwesers und antisemitischen Gefolgsmanns Adolf Hitlers: „Es ist auch nicht sicher, ob ihm (...) Assoziationen gekommen sind zu der Verwüstung, die er in Ungarn zurückgelassen hatte, oder zu seinen Gendarmen, welche die Juden in die Waggons geprügelt und in den Tod geschickt hatten. Über 600.000 in kürzester Zeit. Viele wurden auch vor Ort erschlagen. (...) Oder kam ihm die Armee in den Sinn, die auf seinen Befehl hin nach Rußland marschierte und am Don unterging, weitere 400.000 Tote für die Ewigkeit? Das auf Fahrrädern in den Krieg radelnde Bataillon, das, bevor es noch die eigenen Landesgrenzen überschritt, im Schlamm steckengeblieben war, weil es, welch Mißgeschick, unablässig geregnet hatte. Gut bestückt war die ungarische Armee ohnehin nicht, weshalb Hitler Horthys Ansinnen, ungarische Divisionen gemeinsam mit der Wehrmacht kämpfen zu lassen, zurückgewiesen hatte. So hatte Horthy der Sowjetunion seinen eigenen Krieg erklärt und ihn allen Prognosen entsprechend verloren“.

POESIERaoul Schrott zieht in seinen Gedichten alle Stimmregister. Von einem Leben im Mittelfeld, die Lunge leer, am Limit handelt Der Sechser, verfolgt von Ersatzbank, Kontrahent und Selbstbetrug. Alleinstehend Anfang vierzig macht eine Inventur des eigenen Lebens, Familienstand geklärt, gut genährt, in Positur, mit Vorstellungen von sich, die zur Hälfte erlogen sind. Die Rückenschwimmerin richtet den Blick ins Nichts, empfindet das Wasser, kommt nirgends an, reckt sich von einem Beckenrand zum anderen, während Quadrate das Licht der Decke auf die Abtauchende zurückwerfen. Der Museumswächter beobachtet erschöpfte Touristen, Schulklassen mit Themenlisten, Empörung über Pinselstrich und Zentralperspektive und benötigt gutes Schuhwerk, während die Putzkolonne nachts alle Verschmutzungen des Tages aufwischt. Die Dolmetscherin zeichnet Denkfiguren in die Luft, kritzelt Notizen und macht Skizzen, ein Engel der Schrift, dem Planetenschriften Gedankenstützen sind.

ISLAM / DEMOKRATIE / FREIHEITWelche Rolle spielen die Neuen Medien in Syrien? Mit Facebook, Skype und Smartphones unterwegs im Bürgerkrieg war James Harkin. In seiner Reportage berichtet er von der anfänglichen Begeisterung junger Medienaktivisten für Satellitentelephone, Sender, High-Tech-Walkie-Talkies, Proxy-Software, Bloggen und Online-Social-Networking. Die Bewegung spuckte bald große Töne, doch über Handyfilmen und Videos im Internet hat die technologisch versierte junge Opposition die Politik vernachlässigt. Die leicht herzustellenden, aber schwachen Bande der neuen Medien haben darüber hinweggetäuscht, daß es gilt, Bündnisse über Syriens komplexes ethnisches und religiöses Mosaik hinweg aufzubauen. Fast 100 Medienaktivisten haben mittlerweile ihr Leben verloren. Von Armee und islamistischen Extremisten verfolgt, sind viele ins Ausland geflohen. Die einstige Begeisterung ist einer Ernüchterung und Desillusionierung gewichen.

Galt die Türkei vor kurzem noch als vielversprechender politischer Akteur im Nahen Osten, wird das Land heute von einer tiefen Krise bestimmt. Die vom Arabischen Frühling beflügelte Hoffnung, daß politischer Islam und liberale Demokratie einen gemeinsamen alternativen Weg zur Moderne erproben könnten, scheint verflogen. Erdogans AKP-Regierung sieht sich zunehmendem Widerstand gegenüber, nicht nur durch Kurden und schiitische Alawiten, sondern auch durch die eigene Wählerschaft. Sein neo-osmanisches Auftreten, Übergriffe auf das Privatleben, Eingriffe in die Unabhängigkeit der Justiz, die gewaltsame Niederschlagung von Protesten haben Erdogan Zustimmung gekostet. Korruptionsaffären, weltlich orientierter Dissens, drohende Wahlniederlagen in Istanbul und Ankara, entgleitende Loyalitäten – die Selbstsicherheit der AKP schwindet. Im Herrschaftsgefüge treten Risse auf. Wird die türkische Demokratie überleben?, fragt Roger Friedland in Körper des Osmanen

Abdelwahab Meddeb widmet sich aus Anlaß der Diskussion über die neue tunesische Verfassung dem Verhältnis von Religion und Verfassung, Islam und Säkularismus. Eine Verteidigung des Islamismus durch akademische Kreise im Westen greift um sich. Am Beispiel des US-amerikanischen Intellektuellen Noah Feldman, Jurist, Mitglied des Council on Foreign Relations und Fürstenberater, Spiritus rector der jüngsten afghanischen und irakischen Verfassungen sowie Berater des tunesischen Islamistenführers Rachid Ghannouchi, zeichnet Meddeb nach, wie in einflußreichen westlichen Kreisen die Strategie um sich greift, es müsse „säkularen Autokratien“ in der islamisch geprägten Welt Unterstützung entzogen werden, um diese den Islamisten zu gewähren. Anzustreben sei ein demokratischer Islamismus. Der Säkularismus selbst wird nunmehr mit Diktatur gleichgesetzt, der Islamismus mit Demokratie. Meddeb macht diese westliche Unterminierung des Säkularismus kenntlich und plädiert für einen Rückgriff auf das Heilmittel der Aufklärung.

In Orgasmus und Gewalt erkundet der marokkanische Philosoph Rachid Boutayeb die Beziehungen zwischen Schrift, Patriarchat, Individualität, Körper, Sexualkontrolle und Weiblichkeit im Islam. „Das islamische Subjekt ist Opfer einer archivalen Gewalt, und sein Körper ist als archive interdit zu verstehen. Die verbotene Sprache des Körpers versucht, Literatur, Malerei und Tanz zur Sprache zu bringen – vergeblich. Die Hüter des Archivs sehen – zu Recht – in jeder Form der Emanzipation des Körpers von der Macht der Orthodoxie eine Infragestellung ihrer Macht.“ (...) „Die Ansicht, daß es im Islam – im Gegensatz zur Leibfeindlichkeit des Christentums – eine lustbetonte Sexualität gebe, ist ein Mythos und zeugt von Ignoranz, nicht nur, was die islamische Kultur, sondern auch, was die Moderne betrifft. Freie Sexualität, freie Körper, freie Subjekte – dies alles sind Geschöpfe der westlichen Moderne. Wie kann man über eine freie Sexualität im Islam sprechen, wenn die Hälfte der Gesellschaft, nämlich die Frauen, im islamischen Diskurs nur als Objekt betrachtet wird?“ (...) „Lust als legitime Lust ist im Islam allein männlich. Sexualität bleibt Männersache; Frauen haben keine Lust, ihnen sind lediglich Pflichten auferlegt.“ Ein flammender Essay gegen die Domestizierung des Körpers und die Opferung der Frau durch den phallozentrischen Diskurs der islamischen Orthodoxie.

REISEN UND REPORTAGENIm Frühling träumen wir uns mit Bora Ćosić nach Italien. Zum Beispiel nach Triest, wo Joyce seine Prosa geschmiedet und der revolutionäre Futurismus seine neue Auffassung von Kunst und Leben propagiert hat. Der Autor nimmt uns mit auf eine beschwingte Wallfahrt auf den Spuren von Kunst, Architektur, Literatur, zu betörenden kulturellen Reichtümern eines herrlichen Landes. Seine Wege führen ihn nach Amalfi, in die weiße Stadt Catania und zum Ätna, in die Katakomben von Palermo, in die Berge von Norcia, wo die weltbeste Salami produziert wird und der Benediktinerorden ins Leben gerufen wurde. Er reist nach Assisi und Monselice, wo Petrarca gestorben ist. Er lauscht dem Meeresrauschen im Ohr des Dionysos bei Syrakus und dann, nach Pisa, verrenkt er sich den Hals, um die Türme von San Gimignano zu erspähen: Wunder über Wunder, Städte, Landschaften, Bauwerke und ein summender Bienenkorb voller Assoziationen.

Der „poetische Geograph“ und Reporter Wassili Golowanow sieht nur eines: Öl, Öl, Öl! In seiner Reise ans Kaspische Meer gerät er in die größte Erdölregion des einstigen russischen Imperiums und der Sowjetunion. Die Halbinsel Apscheron, an deren Südküste die Ölstadt Baku liegt, beeindruckte Geographen mit ihrem schwindelerregenden Ölreichtum schon vor mehr als einem Jahrhundert. Das Erdreich war derart öldurchtränkt, daß nie verlöschende Feuer loderten. Doch das boomende Ölbusiness hat die Region von Grund auf umgepflügt. Wo einst duftende Gärten Besucher in farbigen Blütenstaub hüllten, der von Aprikosen-, Mandel- oder Feigenbäumen herabwogte, stehen heute Bohrtürme. Vom alten Leben ist nichts geblieben. „Wo hinter dem Dorf einst die Felder und Gärten lagen, regieren heute die Hunde, sie bewachen riesige silberfarbige Tanks mit Öl. Das Öl ist von Stacheldraht umzäunt, MP-Schützen bewachen es, das Öl ist bis an den Dorfrand gerückt.“ Von der einstigen spirituellen Kultur Aserbaidschans, von der Geschichte des Erdölbooms, dem sagenhaften Aufstieg der Familien Nobel und Rothschild, von Reichtum und Gier: Das Erdölfieber von Aserbaidschan.

Der Rußlandexperte Georges Nivat begibt sich auf eine Reise von dem westlichen Fenster des eurasischen Imperiums hin zum östlichen Gegenstück: Er reist von Petersburg nach Wladiwostok, das erste 1703 durch Peter den Großen gegründet, das zweite 1860 durch Murawiew-Amurski. Zehntausend Kilometer Luftlinie liegen zwischen beiden Städten, deren eine Rußland nach Europa hin öffnet, die andere es zum Fernen Osten hin. Trotz seiner immensen Größe erscheint Rußland heute als erstaunlich homogen. Moskau wendet sich zunehmend dem Osten zu, um sich ökonomisch zu stärken und neue politische Allianzen zu schmieden. In großem Stil wird investiert und der Osten als Tor zur pazifischen Welt aufgebaut. Die schwache Bevölkerungsdichte Sibiriens begünstigt die familiale Vermischung beider Völker: Immer mehr russische Frauen heiraten chinesische Männer. Der Osten Rußlands ist nicht mehr Schreckensort der Zwangsarbeit, sondern Experimentierfeld einer eurasischen Perspektive. Ein Blick in die Zukunft.

Der polnische Reporter Włodzimierz Nowak konstatiert: „Mein linkes Kabel hat 28 Zentimeter und mein rechtes 29. Ein blödes Gefühl: Die Jungs haben Kabel von vierzig Zentimetern“ und taucht ein in das Universum der Muskelmänner in Poznań: Muckibude. Er findet eine Welt männlicher Körperkultur, deren Adepten vom Kriminellen über den Hip-Hopper bis zum Studenten und Professor reichen. Es begegnen ihm Hilfsmittel wie Anabolika, Deca Durabolin, Omnadren, Superanabolon, Testosteron, Winstrol und fragwürdige bis gefährliche Methoden, den eigenen Körper gnadenlos zu optimieren. Man erhält diese auf einem zwielichtigen Markt gepanschter Substanzen, welcher das labile seelische Gleichgewicht junger Männer auszunutzen weiß. Von dem Versuch, Selbstbewußtsein durch Körper und Masse zu erlangen.

Die unafrikanischste Stadt des schwarzen Kontinents ist Ruandas Hauptstadt, Kigali. Frisch gemähte Grünstreifen, kaum Industrie, ein Verbot von Plastiktüten, überdurchschnittliche öffentliche Sicherheit, penibel regulierter Autoverkehr: außergewöhnliche Ordnung bestimmt das Bild und zeigt den Versuch einer Stadt, sich nach dem Völkermord 1994 eine Wiedergeburt zu verordnen. Peter Stepan beschreibt die Topographie dieser atypischen afrikanischen Stadt, die, auf Hügeln gelegen, mit einer einzigartigen Natur und Vogelvielfalt aufwarten kann. Dennoch bleibt die Infrastruktur mangelhaft, Korruption bei der Stadtplanung luxuriöser Villenviertel führt zu Uniformität und verdrängt ein armes altes Wohnquartier aus Lehmbauten nach dem anderen. Wie werden die Erinnerungen an Mord, Gewalt, Blutströme, Brandgeruch aufgearbeitet? Was verbirgt sich hinter der makellosen Fassade? Und welche Rolle spielt das heutige Regime, das in seiner Autokratie an die einstige Kolonialherrschaft und die frühere Tutsi-Monarchie erinnert? Das neue Kigali

THEATER, KUNST UND KULINARIKFrank M. Raddatz analysiert in Erobert Euer Grab!“ das immer erfolgreichere „postdramatische Theater“. Während das postdramatische Paradigma eine Krise des Dramatischen mit einer Depotenzierung des Sprachlichen verklammert, unterscheidet er ein der Literatur zugewandtes Theater von einer Form, die mit dem Epochenbruch von 1989 und der damit verbundenen Abkehr von Utopiehorizonten entstand. Der dramatische Text, die zukunftsoffene Handlung, der Schauspieler, Repräsentation und Mimesis bekommen Konkurrenz vom Performer in einem Theater ohne Handlung. Kunst hört auf, Zukunftsgenerator zu sein. Der Geist des Hier und Heute, eine Ästhetik der Präsenz rivalisiert mit Echoräumen der Geschichte. Das postdramatische Projekttheater entspringt jenem utopielosen Raum, den die postkommunistische Situation eröffnet. Das Ende der Kritik und die performative Form des Unschuldsraums scheint tief verschränkt mit jener Apotheose der Gegenwart, die wir als Postmoderne kennen. Handelt es sich bei der postulierten Aufrichtigkeitskultur um ein Theater der „objektiven Verlogenheit“ oder haben die fehlgeschlagenen Experimente des 20. Jahrhunderts die Ressource Zukunft tatsächlich aufgebraucht? Über Gegenwart und Zukunft, Geschichte als Maske des Tragischen, die Konstellation der Zeithorizonte, über Theaterutopien und Epochenerfahrungen.

Heinz Peter Schwerfel fragt, warum Künstler, die ihre Liebe zur Utopie der Avantgarden offen zeigen, seit der Wende des Mauerfalls nicht mehr hoch im Kurs stehen. Ist die Zeitgleichheit beim Absturz der Ideologien in Politik und Kultur als Zufall zu betrachten? Vielleicht nicht: Was der Politik ein sozial verbrämter Neoliberalismus jenseits aller utopiebasierten Ideologien sein mag, ist der Gegenwartskunst eine „Postpostmoderne“ genannte ethische Beliebigkeit, konsumorientiert und avantgardefeindlich, die jede Reflexion des eigenen Status meidet. Kurz vor der politischen hatte es Anfang der achtziger Jahre eine kulturelle Wende gegeben; seither will der Künstler nicht mehr Glied einer Kette sein, sondern Anachronist und Außenseiter, möglichst mißverstanden, jedoch im Segment sechsstelliger Preise gehandelt. Nach dem von Francis Fukuyama ausgerufenen Ende der Geschichte begann die Post-Pop-Kultur wie niemals zuvor systematisch frische Trends und Moden zu lancieren, um das Betriebssystem des Kunstmarkts unter Dampf zu halten. Heute nun regiert, in Ermangelung neuer Trends, eine Outsider-Kunst. Künstler hingegen, die Kunst und Kunstmarkt in ihren Werken kritisch reflektieren, sind für Sammler und Galerien eher uninteressant geworden. Das Geld bestimmt: Insider sind out!

KÖRPER UND GENUSSDer Name Romanée-Conti läßt Gaumenfreunde träumen. Bei einem winzigen Ort in Burgund wachsen die Trauben einer der besten Weinlagen der Welt. Die Barriquefässer des Weinguts Domaine de la Romanée-Conti veredeln die Quintessenz eines einzigartigen Bodens und verkörpern eine jahrhundertealte Geschichte. Benediktiner- und Zisterziensermönche des Mittelalters haben sich zuerst hier festgesetzt und die Rebsorte Pinot Noir angebaut. Die Hartnäckigkeit der Kultivierung hat aus diesem Wein ein Produkt gemacht, das Genießer aus aller Welt begeistert. Der heutige Eigentümer Aubert de Villaine spricht mit Renée Kantor über die Geschichte dieses einzigartigen Weinguts. Er versteht sich als Krieger, der eine große Schlacht gewinnen will gegen den Gang der Zeit, und die Einförmigkeit des Weltmarkts. Er spricht über Erfahrungen und Finessen beim Umgang mit Boden und Klima, mit Erde, Regen und Sonne, mit der Haut und dem Saft der Trauben sowie der Reife ihres Kerns. „Eine Flasche dieses großen Weins zu trinken, kann sich als eine letzte Zeremonie vor dem Ende erweisen: Wenige Tage vor seinem Tod trank Henry Miller zusammen mit zwei schönen Frauen einen schönen Wein, einen Romanée-Conti. Der Ritus eines letzten Sakraments, ein letztes Hurra auf das Leben.“ Ein Gespräch über Handwerkkunst, Biodynamik, Ästhetik, Marktexzesse und kommerzielle Wegelagerei.

UNENDLICHKEITENIn Gespräch mit meiner Seele vertieft sich die libanesische Dichterin Etel Adnan in eine schicksalhafte Verbindung; im Dialog mit Klaudia Ruschkowski meditiert sie über Körper, Ich und Poesie: Durch Nacht zum Licht: „Da ist das Ich, das Bewußtsein. Da ist die Seele, von der wir nicht wissen, was sie ist. Sie ist wie ein Gefährte, ein Schatten des Ich. Dann gibt es den Körper, der kein Objekt ist. Er denkt. Er ist du. Absolut du. Du bist absolut Ich, du bist absolut die Seele, du bist absolut der Körper. Und alle sind da. Ich kann nicht anders, als mit dieser Seele zu sprechen, als wäre sie ein lebenslanger Gefährte. Wir waren eins, und wir waren verschieden. Wie begegneten wir einander? Was taten wir einander an? Also wende ich mich an die Seele.“

REISE DURCH DEN KOSMOSDer am MIT lehrende Astrophysiker und Schriftsteller Alan Lightman versucht, dem Unendlichen Geheimnisse abzulauschen: Unser Platz im Universum. Wie verhält sich unser Planet zu den gigantischen Distanzen und Größenordnungen des Kosmos? Der Forscher Garth Illingworth hat als am weitesten entfernte Galaxie ein Sternengebilde ausgemacht, dessen Licht 13 Milliarden Jahre braucht, um die Erde zu erreichen. Die Milchstraße allein umfaßt etwa 200 Milliarden Sterne, und ihr Durchmesser wird auf 100.000 Lichtjahre geschätzt: ein Lichtstrahl benötigt also 100.000 Jahre, um von einer Seite der Milchstraße zur anderen zu gelangen. Die Astrophysik geht von einem expandieren Universum aus, und der Moment des Urknalls, an dem die Expansion begann, wird auf circa 13,7 Milliarden Jahre zurückliegend eingeschätzt, als das gesamte Universum noch eine unendlich dichte Versammlung purer Energie gewesen ist. Die Gesamtheit der lebenden Materie auf der Erde – Menschen, Tiere, Pflanzen, Bakterien, Algen – macht heute nur 0,00000001 % der Gesamtmasse des Planeten aus. Lightman nimmt uns mit auf eine höchst erstaunliche Reise durch die Maßstäbe und Dimensionen unseres Universums.

In einer Geschichte, in der sie von der Zeit erzählt, als sie in Afrika einen Löwen schoß, behauptet Karen Blixen, daß ‛der König kein Herz besitze, welcher eine liebliche Melodie höre, ohne sie sich merken zu wollen, eine schöne Frau sehe, ohne sie zu begehren oder ein wildes Tier erspähe, ohne es schießen zu wollen.’ Karen Blixen besaß ein Herz: Sie schoß den Löwen und schickte sein Fell an den dänischen König.“ Suzanne Brøgger schildert einen faustischen Pakt der Schriftstellerin und ihre Begegnung mit dem anderen „heiligen Monster“ der dänischen Kultur: Karen Blixen trifft Niels Bohr.

BRIEFE UND KOMMENTAREPrag im Winter besucht und porträtiert Thomas Knauf. Er trifft Schriftsteller und Dichter, Filmer und Schauspieler, Intellektuelle und Filmregisseure, Verleger und Künstler. Er erinnert sich an Daheimgebliebene – wie Bohumil Hrabal –und Emigranten – wie Milos Forman – zu Zeiten des „Realen Sozialismus“, manche vorsichtig, um weiterhin in ihrer Sprache schreiben zu können, andere schon vor der „Samtenen Revolution“ von Prag“ unangepaßt, widerspenstig, erfindungsreich, beunruhigend, risikobereit, brillant. Sie arbeiteten entsprechend der Maxime des Surrealisten Vítězslav Nezval, der 1930 bereits schwärmte vom Anbruch „einer Zeit, da alle Menschen Poesie machen wollen“ und seine Zeitgenossen ermahnte „zur Lockerung alles Erstarrten, alles Versteinerten (der Form, der Vorstellungskraft, der Sprache, der Phantasie, der kleinbürgerlichen Moral ...) und zur Konkretisierung, Materialisierung der Welt, die lacht, der Welt, die duftet.“

Heathcote Williams erinnert sich aus Anlaß des 100. Geburtstags von William Burroughs an einen Besuch des mythologisierten Underground-Autors in London zu einer Heroin-Entziehungskur. Über Landkarten der menschlichen Persönlichkeit, Maya-Kultur, Alan Ginsberg, Truman Capote und die Schicksalszahl 23, über die mottenzerfressene Königin des Inselreichs, Sarkasmus gegenüber Love and Peace, kichernde Haschköpfe, psychedelische Träume und die letzten geschriebenen Worte des „Hombre invisible“: „Liebe ist der natürlichste Schmerztöter, den es gibt.

Hans Christoph Buch hinterfragt Humboldts Schweigen zu Haiti. 1804 gründeten die Führer der Sklavenrevolte nach einem fünfzehnjährigen Bürgerkrieg gegen ihre französischen, englischen und spanischen Herren die Republik Haiti. Zum ersten Mal führte der Kampf von Sklaven zur Abschaffung der Sklaverei und zur Anerkennung ihrer Menschenrechte und zur tatsächlichen Gründung einer „Negerrepublik“. Alexander von Humboldt, Aufklärer, Sympathisant der Französischen Revolution, Feind des Sklavenhandels hat dieses historische Ereignis, das er aus nächster Nähe miterlebte, in seinen Schriften niemals erwähnt. Warum? Rassistische Vorurteile? Selbstzensur? Zensur? Abscheu vor der mit dem Freiheitskampf einhergehenden Gewalt? Eine Erkundung

KORRESPONDENZENkommen von Michail Ryklin zu den Antischwulen-Kampagnen um Sotschi und der Schwulen-Lobby innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche: Nur wer sich outet, ist schwul!; von Urvashi Butalia über die Beziehung zwischen dem Identitätsempfinden religiöser Minderheiten und einer um sich greifenden Zensur in Indien; und von Pier Aldo Rovatti aus Triest zum Verhältnis von Wohnen und Leben und der Entropie der Stadt.

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