Freitag, 26. August 2011

Interpretationslose Wahrnehmung

Eine Unmöglichkeit. Sonst könnten wir die Dinge an sich, das Es, wie es ist, wahrnehmen. Wir erkennten. Können wir aber nicht. Immer nur vermittelt. Die Sinne bedingen. Alles, was bewusst wahrgenommen wird, wird gedeutet. Wenn wir es nicht deuten können, dann, wie auf einer Metaebene, dass wir es nicht deuten können. Wir belegen es sofort mit Vor- oder Überzeichen, wir benennen. Niemals nehmen wir es NUR WIE ES IST. Denn nichts ist für uns wie es ist, alles ist, wie es scheint (erscheint).

Bedeutungen liegen in den Relationen. Die Zeichen oder Zeichenensembles selbst sind bedeutungslos, weil sie erst in den Relationen Bedeutung erlangen können (Stellung, Verbindung und Bezug innerhalb eines grammatikalischen Systems oder eines anderen; z.B. Ziffern, die erst durch ihre Stellung und Bezug oder Bezüge „Wert“ erhalten: eine 0, eine zweite 0, eine andere Ziffer, 1. Der Wertunterschied liegt nicht im einzelnen Zeichen, sondern in seiner Stellung und Verbindung: 0,01, 1,0 oder 00010001 etc. oder in Sprachsätzen: „Mann beißt Hund“ klingt ungewöhnlich gegenüber „Hund beißt Mann“.)

Alles, was wir wahrnehmen, wird in ein dynamisches Sinngefüge inkorporiert. Dort, wo wir nicht plausibel zuordnen können, operieren wir mit Platzhaltern, Leerstellen, die den Bezug zum Übergeordneten halten. Je mehr Leerstellen oder Platzhalter, desto schwächer dass sinnhafte, sinnfällige (Gedanken)Gebäude, der Verstehenszusammenhang, das Verstehen. Das alles auf mehreren Ebenen (wie bei einer musikalischen Notation. Ein anderes Bild wäre das Schachspiel, aber nicht nur als Brett, zweidimensional, sondern als Raum, dreidimensional. Mit der vierten Dimension, Zeit, hinzugedacht, erahnen wir eine Komplexität, die „unübersichtlich“ wird).

Gott ist den Menschen nicht, sondern erscheint. Meinen sie zumindest. Der Gott trügt nicht in seinem Schein und Scheinen.

Die einzige innere Wahrnehmung, die interpretationslos geschieht, erfolgt im Träumen. Dort nehmen wir nicht wahr, das tun wir erst im Nachhinein, und dann ist der Wunsch nach Deutung auch überstark, sondern sind so direkt im Geschehen, so fraglos, so unmittelbar, wie nirgendwo sonst. Es scheint, retrospekt, als ob im Träumen keine reflektierenden Fragen, keine Deutungen sich ergeben können, als ob dazu keine Zeit wäre bzw. einfach keine Nötigung. Im Traum ist es, wie es ist, weil das Ich als aktive Instanz, bewusst, nicht arbeitet. Sinn und Bedeutung sind an das Bewusstsein gebunden.

Haimo L. Handl

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